Texte zur Ausstellung "Halkyonische Tage"

I      les messieurs d’avignon

Die »Messieurs d’Avignon« sind eine Versammlung böser Buben der Moderne von Nietzsche bis Houellebecq, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie manches amtlich gewordene Welt- und Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts aus einer prominenten Abseitsposition heraus in Frage stellen. Beiläufig gezielt. Im permanenten Widerspruch zu einem scheinbar stringent verlaufenden Fortschrittsmodell markieren sie die Schleifen und Störungen eines revisionsbedürftigen Textes.

Picassos »Demoiselles d’Avignon« aus dem Jahr 1907 als eine Ikone der beginnenden Moderne ist Ausgangspunkt eines solchen korrekturbedürftigen Textes. Jenseits der kubistisch analysierten Frauenkörper im Sonnenlicht fällt eine Abwesenheit von Männern auf, die auf eine Schattenlinie der Moderne verweist, deren Protagonisten einen labyrinthischen, mythennahen, eurokontinental geprägten Bild- und Denkbegriff fortführen, in dem alle logischen oder pragmatischen Übereinkünfte einen unzugänglichen Kern enthalten. Natürlich gibt es auf dieser Schattenlinie keine politische Korrektheit, keine gesellschaftlichen Gesamtlosungen, keinen Common-Sense-Pragmatismus und keine verlässliche Moral. Der nach angloamerikanischen Maßstäben nicht unterhaltsame, nicht informative und nur schwer instrumentalisierbare Bild- und Gedankenschatz dieser Autoren beschreibt einen Horizont, der heute für das Modell einer Moderne jenseits von Karl Marx und Coca- Cola Bedeutung erlangt.



II      nach tsalal

Die entscheidende Schlusssequenz von J. L. Godards »Le Mépris« (»Die Verachtung«) von 1963 findet auf dem Dach der Villa Malaparte auf Capri statt. Die Architekturikone, die einen abenteuerlichen Brückenschlag zwischen der mythischen Toteninsel Arnold Böcklins und einer futuristisch-dekonstruktivistischen Entwurfsästhetik erlaubt, ragt auf bizarre Weise durch die Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts: Der exzentrische Dichter Malaparte, zunächst Mussolini nahestehend, bekehrte sich später zum Kommunismus und versuchte die Villa an die Volksrepublik China zu vererben – was zuletzt nach einem jahrelangen Rechtsstreit scheiterte. Bei Godard sollte als »Film im Film« auf dem Dach der Villa Homers Odyssee gedreht werden, unter amerikanischer Produktion und europäischer Regie (Fritz Lang spielte den Regisseur).

Die hierbei thematisierte Konfrontation der kulturellen Sphären (antike Thematik gegen modernes Format, amerikanisches »U« gegen eurokontinentales »E«) wird zur bildnerischen Zündfläche eines anderen, weniger versöhnlichen Zusammenpralls der Kulturen: In E. A. Poes fingiertem Seefahrerbericht »The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket« (1838) kommt es im Südpolarmeer auf der fiktiven Insel Tsalal – die von Böcklins Toteninsel vielleicht auch nicht weiter entfernt ist als Capri – zu einem ausweglosen gegenseitigen Massaker der sich begegnenden Kulturen. Es handelt sich hier um einen Nachklang der europäischen Kolonialgeschichte, aber vielleicht auch um die bleibende Hintergrundmelodie zu Fritz Langs Odyssee in Godards »Verachtung« – während Brigitte Bardot mit dem amerikanischen Filmproduzenten auf der Landstraße tödlich verunglückt.



III      was ist metaphysik?/spiegel interview

Das so genannte »Spiegel-Interview« zwischen Rudolf Augstein und Martin Heidegger fand am 23. September 1966 statt. Heidegger knüpfte das Zustandekommen des Gesprächs an die Bedingung, dass es erst nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfte. So erschien es am 31. Mai 1976 in der Zeitschrift »Der Spiegel« unter dem Titel »Nur noch ein Gott kann uns retten“. Das Gespräch wird zum Dokument eines Sich-nicht-mehr- Erreichens zweier Generationen. Wo Augstein nach historischen Verwicklungen fragt, antwortet Heidegger mit metaphysischen Überlegungen. Diese nicht mehr zu schließende Lücke und der im Voraus verhandelte Tod des Protagonisten scheinen willkürlich und unwillkürlich an die Rede vom »nichtenden Nichts« aus seiner Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« vom 24. Juli 1929 anzuknüpfen. Die Anknüpfung liefert ein Zwielicht der sich überlagernden Lesbarkeiten von Text und Bild: Zwischen den erstarrten Gesten wird die scheinbare Begegnung zur Geisterrunde im verdunkelten Innenraum eines nur noch in Gleichnissen zu vermittelnden Wissens. Das Weinglas vorne auf dem Schreibtisch schimmert in den letzten Lichtstrahlen zwischen verlorenen Grenzen hin und her. Niemand bemerkt im Spiel der Reflexionen, ob hier die unsichtbare Hand des nihilistischen Wanderers den Pokal mit der Tinte des Schierlings erhebt oder ob auf den Papieren des Philosophen eine gläserne Tänzerin ihre letzte überflüssige Hülle verliert.



IV      was ist metaphysik?/kingdom

Die Bildgruppe »Was ist Metaphysik?/Kingdom« schließt durch ihren Obertitel an die Gespensterrunde zwischen Rudolf Augstein und Martin Heidegger im Jahr 1966 an (»Was ist Metaphysik?/Spiegel Interview«). Der Tod Martin Heideggers, der als die Bedingung für eine Veröffentlichung des Interviews (1976) verhandelt wurde, ließ verschiedene Geister frei. Unter diesen gibt es berechenbare und unberechenbare Geister. Zu den unberechenbaren könnten z.B. diejenigen gehören, die Lars von Trier im Jahr 1994 in seiner Fernsehserie »Kingdom« (»Geister«) in einem grotesken Krankenhaus versammelte. »Kingdom« erschien als die europäische Antwort auf »Twin Peaks« von David Lynch.

Die Abgründe, die sich hier hinter der physikalisch beschreibbaren Welt auftun, führen nicht in die Philosophie, sondern in eine düstere Wahnwelt, in der Komisches und Monströses dicht nebeneinander liegen. Nur zwei Angestellte mit Down-Syndrom, die im Keller in einem dunklen Küchenraum des Krankenhauses arbeiten, wissen etwas über die unheimlichen Vorgänge, die Ärzte und Patienten in ein dichtes Netz von realen und irrealen Momenten verstricken. Lars von Trier knüpft mit seiner Produktion an eine Tradition an, die in Nordeuropa mit Ibsen, Strindberg, Hamsun, Bergman etc. eine psychisch-abgründige Variante jener eurokontinentalen Kulturprägung liefert, in der ein textuell verschlungener Geist wirkt, der weniger von stringent aufeinanderfolgenden Handlungsschritten geleitet wird, als von komplexen Unterströmungen.

Sowohl in der nächtlichen Küche des Krankenhauses, als auch in der verdunkelten Bibliothek des Philosophen versuchen Geister sich über eine verstörte Welt klar zu werden, in der das Licht nur dann die versprochene Erkenntnis bringt, wenn es die Geister nicht vertreibt.



V      ruperts worte

In A. Hitchcocks Film »Rope« (»Cocktail für eine Leiche «) von 1948 findet zwischen dem Philosophielehrer Rupert und den übrigen Gästen eines Dinners ein Gespräch über die doppelbödig-verführerische Moralphilosophie Friedrich Nietzsches statt: Weil moralische Gesetze nur für den »Durchschnittsmenschen« Gültigkeit hätten, müsste ein Mord um des Mordes willen – also ein maximal unmoralischer Akt – das ideale Instrument sein, um die kulturelle Überlegenheit eines privilegierten Individuums zu demonstrieren. Natürlich ist mit dieser Verwechslung von ästhetischer und ethischer Sphäre Nietzsche falsch interpretiert. Dennoch oder gerade deshalb beflügelt die kurzgeschlossene Analogie zu einem Kunstwerk um des Kunstwerks willen den Mörder und seine Helfer zur Tat: Der ohne Motiv ermordete Freund, der auch als Gast zur Dinner-Party geladen war, befindet sich während des ganzen Abends als Leiche in der Truhe, auf der sich Teller und Speisen befinden. So wie der perfekte Mord als Ausdruck eines absolut freien Willens zum vollendeten Kunstwerk erklärt wird, so sei die Party nach dem Mord mit allen Freunden des Ermordeten die »Signatur des Künstlers«.

Doch im Lauf des Abends wird der Philosophielehrer zum Detektiv und überführt den Mörder. Er weist dabei auf die Grenzlinie einer Realität hin, in der die Worte über Autonomie, Freiheit und Erhabenheit keine Gültigkeit mehr haben. Er scheint dabei sich selbst zu widersprechen, aber auch den falsch verstandenen Thesen Nietzsches, die sich ohnehin längst in den abendlichen Plaudereien an einem beiläufig überspielten Abgrund verflüchtigt haben.



VI      iras

IRAS, die »International Republic for Artists and Scientists «, ist das utopische Refugium einer künstlerischen und wissenschaftlichen Elite nach der atomaren Verwüstung der Erde durch den 3. Weltkrieg. Die düstere Science- Fiction-Vision aus dem Kalten Krieg der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts entstammt dem Text »Die Gelehrtenrepublik « (1957) von Arno Schmidt. Während sich der Ost-West-Konflikt später bekanntlich im Wohlgefallen eines globalen Konsum-Pragmatismus aufgelöst hat, bleibt die Gelehrtenrepublik ihren Erinnerungen überlassen – auf einer schwimmenden Insel, inmitten einer sich im Selbstvernichtungstaumel verlierenden Menschheit.



     a)    iras/300

Ein Reflex solchen Erinnerns ereignet sich z.B. anlässlich des Films »300« (2006) von Zack Snyder nach einem Comic von Frank Miller (1998). Mit der martialischen Ästhetik und Choreographie, die der Film vom Comic übernimmt, wird eine wilde Anknüpfung zwischen Leni Riefenstahl und den Fantasy-Splatter-Auswüchsen des so genannten »B-Picture« vollzogen – womit das Licht auf einen schwierigen, dicht verzweigten und dennoch vitalen Nebenpfad der Moderne gelenkt ist: Der Heroismus von Kampf und Aufopferung, der im Europa der Nachkriegszeit verpönt war, überwintert im abseitigen Format. Die legendäre Schlacht an den Thermopylen, wo eine kleine Zahl (300?) todesmutiger Spartaner dem übermächtigen Invasionsheer der Perser trotzte, war einer der entscheidenden welthistorischen Wendepunkte, der zur Entfaltung der europäischen und westlichen, heute weltweit prägenden Kultur führen sollte.

Der Film – gedreht während der Hochphase des amerikanischen Afghanistan-Feldzuges – stellt die Perser in äußerer Ähnlichkeit zu Taliban-Kämpfern dar und schafft damit eine Analogie zur erneuten Verteidigung des »Westens« gegen den Ansturm östlicher Barbaren. Die Kontroverse, die mit diesem Gleichnis entfesselt wurde, kommt den Bewohnern von IRAS bekannt vor: Niemand kann wissen, wer der wirkliche Feind ist, wenn längst angesichts einer allgegenwärtigen Bedrohung auf allen Seiten jeder gegen jeden kämpft.



     b)    iras/abglanz

Die Erinnerung könnte zurückführen an einen Anfang der Moderne, der zugleich ein Jenseits dieses Anfangs darstellt, ein Überspringen der nihilistischen Klippe, die das Zeitalter der Autonomien auf die Zerreißprobe stellt. Der Betrachter wird damit an den phantastischen Ort eines Geschehens versetzt, dessen Konstruiertheit Bild und Wort ins Gleichnishafte zwingt: In Goethes »Faust II«, der von Peter Stein zur Expo 2000 in Hannover erstmals in voller Länge inszeniert wurde, kommt es zu einer Anknüpfung an die Antike, die der Geschichte im Nachhinein den Sinn einer letztgültigen Weltparabel geben möchte. Die kosmologischen Grenzbestimmungen, die in der »Klassischen Walpurgisnacht« die Szene in ein einziges Fest der Poesie verwandeln, und die darauf folgende Vermählung des »modernen« Faust mit der »antiken« Helena versuchen eine historische Versöhnung und Rundung, die alle Zukunft in sich einschließen möchte. In dem Versuch, die Geschichte in der antithetischen Verdichtung anzuhalten und aufzuheben, scheinen die utopischen Traumata der Moderne abgewendet und vorweggenommen. Die apokalyptische Nähe einer bestmöglichen Welt zeigt sich ab jetzt als die Grundstimmung jeder ausgesetzten, den Zwängen des Alltags entrinnenden Gedächtnisleistung.



     c)    iras/medea/p.p.p.

Einer dieser Erinnerungsströme führte den Filmregisseur P. P. Pasolini immer wieder auf die so genannte »Wiege des Abendlands«, die griechische Antike, zurück. Obwohl dieser Bezug zu seiner Zeit längst nicht mehr selbstverständlich war, trotzte er hier dem modisch gewordenen Anti-Eurozentrismus, um in der Schicksalsidee der Tragödie eine Antwort auf seine eigenen Fragen zu finden. Um der archaischen Kompaktheit eines unbedingten Lebensgesetzes nachzuspüren, das er für sich selbst und seine Gesellschaft herbeisehnte, versetzte er das Geschehen in die gleichsam zeitlos karge nordafrikanische Wüstenlandschaft. Ob bei »Ödipus Rex« (1967), »Medea« (1969) oder der filmischen Skizze »Notes for an African Orestia« (1970), überall versuchte Pasolini seine anachronistische Haltung gegenüber dem gerade aufkommenden Massenunterhaltungskino Hollywoods durch einen extra geringen technischen Aufwand zusätzlich auf die Spitze zu treiben. So unverstellt wie möglich, elementar und wortlos, sollte die Geschichte nur aus dem einfachen verdichteten Bild sprechen. Die langatmige Szene des Menschenopfers zu Beginn von „Medea«, bei der das berühmte Foto entstand, auf dem Pasolini selbst mit ausgebreiteten Armen und Sonnenbrille den »Gekreuzigten« spielt, steht hier fürs Ganze.

Die Bewohner von IRAS, die sich selbst längst verloren haben, hätten geahnt, was die inszenierte Sprachlosigkeit Pasolinis meinte, denn sie wussten, dass sich ein Schicksal nur dann ereignet, wenn es seiner Kommentierbarkeit entgeht.



VII    marcels beute/pierres verlangen
           komma vor und, roberte
           aktaion, pierre, justine

Das Leben Pierre Klossowskis (1905–2001) reicht – genau wie dasjenige seines jüngeren Bruders Balthus – beinahe durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Hin- und hergerissen zwischen deutschen und französischen Wurzeln gab es kaum eine wichtige Figur seiner Zeit, mit der er nicht in Kontakt getreten wäre, von Rilke bis Lacan. Sein Wirken als philosophischer Schriftsteller, das an zentraler Stelle Friedrich Nietzsche, aber auch dem Marquis de Sade gewidmet war, hatte nicht nur Einfluss auf die Entwicklung des Surrealismus, sondern diente noch vielen Denkern des Poststrukturalismus als wichtiger Bezugspunkt.

Erst spät begann Klossowski parallel zu seiner philosophisch-literarischen Arbeit ein zeichnerisches Werk aufzubauen. Die scheinbar sexuell aufgeladenen Szenerien, die diese Zeichnungen beherrschen, sprechen allesamt im Zeichen Nietzsches und de Sades die Sprache eines verhinderten Begehrens, das sich selbst durch den Versuch einer gewaltsamen Annäherung vom Objekt/Subjekt seines Begehrens zwiespältig distanziert. Wo die Selbstbehinderung des Begehrens das Motiv seiner unmöglichen Befriedigung ausmacht, da wird die Darstellung einer verzweifelt angehaltenen Gewalt zur Metapher umfassenderer Textschleifen:

Die erste solche Textschleife heißt »Roberte«, die Ehefrau des Künstlers, die für die Szenen der gewalttätigen Verführung selbst als Modell erscheint und damit das herkömmliche Verständnis eines »Begehrens« in der Ehe unterläuft und pervertiert. Das Nicht-Verbotene wird nachträglich zu etwas Verbotenem gemacht, weil ohne Verbot keine Spannung zwischen den Geschlechtern möglich sei.

Die zweite Textschleife ist die abwesende »Junggesellenmaschine« Marcel Duchamps, die den »Akt, eine Treppe hinuntersteigend« empfängt: Roberte wird von ihrem Verführer gegen ihren Willen und gegen die Vorstellung eines geregelten ehelichen Verhältnisses die Treppe hinuntergetragen. Erst der Widerstand der begehrten Partnerin könnte die sanktionierte Zuordnung aufheben, die das Begehren lähmt. Erst der Junggeselle kann die ehemalige Ehefrau wieder verführen.

Die dritte Textschleife ist der Mythos von Aktaion und Diana: Als Aktaion auf der Jagd die nackte Diana erblickte, verwandelte sie ihn in einen Hirschen, worauf ihn seine eigenen Hunde zerfleischten – möglicherweise ein im Mythos verborgenes Tollwutmotiv. Klossowski kontrahiert den Mythos auf den Spuren de Sades, indem er die Reihenfolge der Motive verdreht: Aus dem zur Strafe in sein Beutetier verwandelten Jäger wird das begehrende Untier, das sich der vermeintlich wehrlosen Göttin gewaltsam nähert. Was ihn in seiner tierischen Gestalt sein Leben kosten wird, erscheint irrtümlicherweise als sein psychosomatischer Vorteil im Akt der Verführung.


Alle Texte von Michael Kunze