Texte ohne Verben

Michael Kunze im Ferngespräch (per E-Mail) mit Susanne Prinz.

(Stille. In der Ferne Rauchsäulen.)

SP: Zuerst eine grundsätzliche Frage: Bist Du auch ohne Drogen schwindelfrei?

MK: Das hängt von den Prüfungsbedingungen ab. Ich spielte einmal bei einem Spiel mit, das etwa so wie „Die Reise nach Jerusalem“ funktionierte. Weil ich immer gewinnen wollte, schob ich meine Augenbinde so zurecht, daß ich ein wenig sehen konnte. Irgendwann fiel es aber leider auf, daß ich immer am schnellsten am richtigen Platz saß. Alle Mitspieler waren sich daraufhin einig, daß der Spielverderber bestraft werden muß. Deshalb banden sie mir jetzt ein Tuch so fest um die Augen, daß es keine Möglichkeit mehr zum Betrug gab. Ich sollte blind eine gewisse Strecke vorangehen, bis eine quasi-göttliche Stimme „Halt“ sagt. Bevor es losging, schoben meine Mitspieler das Sofa zur Seite, denn darunter befand sich eine Falltür, die den Weg freigab in eine 500 Meter tiefe Schlucht (unser Spielzimmer befand sich in einem bizarr gelegenen brückenartigen Gebäude). So lief ich also auf den Abgrund unterm Sofa zu, und als ich ins Leere trat, geschahen seltsame Dinge: Aus dem Schwung des vergeblichen Auftretens ergab sich eine ungeahnte Leichtigkeit, durch die sich der Augenblick des möglichen Fallens unendlich zu dehnen begann. Da ich eine Zeitung bei mir hatte, nutzte ich die Dehnung aus, um nachzusehen, was es Neues gibt auf der Welt. In dem Moment aber, in dem die Sonne um die Kontur meines eigenen Schattens durch die Zeilen zu scheinen begann, kam ein Wind auf, der es mir unmöglich machte, die losen Seiten weiterhin geordnet zu halten. Politik, Sport, Wirtschaft, Feuilleton, Fernsehprogramm, alles geriet durcheinander, so daß sich die Zeitung schließlich in ein wirres Zelt verwandelte, das ich mit einer einzigen Rundumbewegung auseinanderriß. Entlang des Bogens, den ich dabei in den Himmel zeichnete, schloß sich das wehende Papier zu symmetrischen Reihen zusammen, die die ausgebreiteten Arme zu Flügeln verlängerten. Ich berührte den Horizont im Moment seiner kürzesten Belichtung. Seitdem wölbte er sich, und die Erde verfiel in Zeitlupe. Ich konnte in der Luft stehenbleiben und kreiste doch unaufhörlich.


SP: Seit Jahren bist Du mit aufwendigen und konstruiert wirkenden Arbeiten beschäftigt, die nach unterschiedlichen Tageszeiten benannt sind, wie z.B. "Vierter Mittag", "Morgen", "Vormittag", etc. Um welche Art Zusammenhang handelt es sich hier, und gibt es einen konkreten Zeitraum, den Du hierbei im Auge hast?


MK: Seit über 10 Jahren versuche ich, einem normalen Arbeitstag den Sinn zu geben, der über die Gleichförmigkeit und Unscheinbarkeit hinausgeht, die wir alle an einem solchen Tag erleben können. Die Tage reihen sich kaum wahrnehmbar aneinander und werden plötzlich zu Jahren, die wiederum zu noch weiteren Zeitspannen zusammenschrumpfen. Ohne die vielen kleinen Schritte zu bemerken, die den großen Schritt ausmachen, sehen wir, daß sich alles verändert hat, und wir fragen uns: Was ist überhaupt geschehen? Man beginnt, sich an Dinge zu erinnern, die noch ganz nah scheinen, aber schon uneinholbar fern liegen. Als die einfachste zeitliche Unterteilung bot es sich an, die vage, aber allgemein gebräuchliche Unterscheidung der Tageszeiten (Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend) zu benutzen, die wiederum die besonderen Phasen einer Arbeit, eines Lebens, einer Laune, einer möglichen Geschichte, etc. ausmachen. So wie für den Menschen ein Tag durch den Sonnenumlauf die einfachste Zeiteinheit bildet, stellt deren Unterteilung in Tageszeiten das einfachste Mittel dar, einen beliebigen Ablauf in Momente zu zergliedern, die mehr sind als nur etwas Zählbares. Es ist ein Rhythmus, der vom größten bis zum kleinsten Geschehen in immer ähnlicher Weise gilt. Ob man damit die Geschichte des Universums erzählen möchte, oder nur einen Blondinenwitz, ist letztlich gleichgültig.


SP: Das Konzept der Tageszeitenfolge ist also als ein Gerüst zu betrachten, das Deine Arbeit zusammenhält, sie aber nicht bestimmt?


MK: Die Unterteilung der Zeiteinheit bleibt in dem Maß beliebig und äußerlich, wie ich selbst nicht darüber hinaussehen kann: Nachdem ich einmal eine größere Auseinandersetzung, die für mich scheinbar etwas Grundlegendes hatte, als "Morgen" bezeichnen konnte (die Schwierigkeit, aus dem Bett zu kommen; das grelle Licht; eine Idee, die noch nicht verwirklicht ist; eine mittelalterlich anmutende Phantasterei, die noch aus dem zurückliegenden Schlaf stammt; etc.), musste ich einsehen, dass diese Auseinandersetzung nicht wiederholbar ist, –und schon nahm der begonnene, ursprünglich planlose Tag eine Gestalt an, die über den Morgen hinausging. Der damit einsetzende Vormittag forderte bereits konkretere Entscheidungen: Der Erdboden sollte berührt werden, Namen wollten genannt werden. Inzwischen bin ich damit beschäftigt, die seit 4 Jahren andauernde Mittagspause abzuschließen, indem die versprochene Erholungsphase auf einen späteren Termin verschoben wird. Und ob ich den Abend jemals erreichen werde, hängt u.a. davon ab, ob nicht morgen auf dem Weg zum Patentamt ein Meteorit auf mich wartet. Die Konkurrenz wäre erfreut, doch die verfrühte kosmische Vereinigung könnte fürs Ganze einen Strich durch die Rechnung bedeuten. Um solchen Unabsehbarkeiten, die aber allesamt eine Rolle spielen, dennoch einen Halt entgegenzusetzen, versuche ich wenigstens auf der datierbaren Seite so zu tun, als bliebe alles immer gleich: Die Leinwandtafeln haben immer das gleiche Format, auch wenn sie manchmal zu einer größeren Bildfläche zusammensetzbar sind. Die Anzahl der Figuren bleibt ebenfalls immer gleich, und selbst die Art und Weise, wie bestimmte erzählerische Ansätze ins Leere laufen und sich in geräuschlose semantische Fallen verwandeln, wiederholt sich so unaufhörlich, daß der Anschein entsteht, es würde sich überhaupt nichts von der Stelle bewegen. Dieser Anschein ist tröstlich und frustrierend zugleich, und er hat selbst wieder eine lange Geschichte.


SP: Was veranlasste Dich, das Medium der Malerei, noch dazu in der anachronistisch anmutenden Version Deiner arbeitsintensiven, detailreichen Großformate mit ihren kulissenhaften Architekturen zu Deinem Hauptausdrucksmittel zu machen, um das deine Fotografien und Objektassemblagen nur ergänzend zu kreisen scheinen?


MK: Die Frage nach dem alten Medium Malerei erhält heute Aktualität durch die Verbreitung der Neuen Medien. Zunächst aber, bevor ich von meinem eigenen Interesse spreche, geht es darum, einige Bestimmungen zu finden, die jener Polemik entgehen, die das Thema Malerei auf eine technische Bilderzeugungsweise reduzieren möchte. Malerei kann zwar, aber muss überhaupt nicht "Pinsel auf Leinwand" bedeuten. Malerei kann sich als Film äußern, als Fotografie, als Installation, als Eingriff in Architektur oder Landschaft, und vor allem immer wieder als Text. So sind z.B. manche Videoräume von Bill Viola schlüssiger mit Malerei-spezifischen Kategorien beschreibbar, ebenso sieht es aus bei wichtigen Aspekten des italienischen Films der 60er und 70erJahre von Antonioni bis Pasolini, und Jeff Wall bringt eine Anwendung repräsentativer Malerei der Vormoderne. Umgekehrt kann man im technischen Sinn Malerei betreiben, doch eigentlich ganz andere Felder beackern: So zeigt z.B. G. Richter gerade in seinen abstrakten Bildern eine fotografische Vorgehensweise, bei Polke ist Malerei das bloße Täuschungsmanöver eines surrealistischen Trickfilmers, und in mancher minimalistischen Malerei wird das verwendete Medium zugunsten raumbezogener Konzepte scheinbar ohne Widerspruch explizit verneint. Man sollte also den Begriff von seinem technischen Ursprung trennen, um präziser das Unterschiedliche vergleichen zu können, selbst innerhalb eines gleichbleibenden Mediums.


SP(in Trance): Und in welchem Sinn bist Du mit Malerei beschäftigt?


MK (mit Projektion im Hintergrund): Jedenfalls wohl nicht im Sinn von peinture. Ich sehe mich am ehesten als ein Verfasser von Texten ohne Verben. Immer wenn ich bei einer komplizierten Erzählung nach einem Handlungsmoment suche und schon wieder auf eine Gedächtnislücke stoße, mache ich eine Art Phantombewegung mit der rechten Hand, in der ich versehentlich statt einem Schreibstift einen behaarten Stil halte, der dann in unterschiedlichen Farben einen Abdruck auf einem senkrecht aufgespannten Tuch hinterlässt, das man auch beim Bau von Segelschiffen verwenden könnte. Diese Prozedur wiederholt sich so lange, bis der Eindruck eines langsam sinkenden Wasserspiegels entsteht, der schließlich durch eine ausgeklügelte Konstruktion die Widerstände sichtbar macht, an denen sich der Fluss der Erzählung staute und die Gedächtnislücke scheinbar unvermeidlich machte. Malerei erscheint hier also als eine Summe von zahllosen vergessenen Verknüpfungen, die durch eine Art manische Ersatzhandlung einen neuartigen Erstarrungsprozess hervorruft, der den Grund eines anti-verbalen Ozeans freilegt. Das entstandene Bild kann als ein Phantomtext betrachtet werden. Das Erinnerungsvermögen wird fehlgesteuert und trifft dennoch die richtige Stelle. Malerei heute bietet im besten Sinn eine Perspektive an, deren Fluchtpunkt der Betrachter erst dann wahrnehmen kann, wenn er sich bemüht zu schielen.


SP(ernüchtert): Aha. Und welche Rolle spielen die zahlreichen Fotos, die Deine Arbeit begleiten?


MK: Es handelt sich da um eine seit mehreren Jahren anwachsende Materialsammlung, meist Schwarz-Weiß-Fotografien, die allesamt in abgelegenen Gegenden Griechenlands entstehen. Es geht mir dabei um eine Dokumentation über den heutigen Zustand eines Landes, in dem zwar die Anfänge Europas liegen, das aber dann die Phase der Neuzeit verpaßte und schließlich erst durch „die Späteren“ wieder an die Welt angeschlossen wurde: Das nicht-griechische Europa auf der Suche nach den eigenen Wurzeln führte in Griechenland zur Befreiung von der Türkenherrschaft, –und ohne Übergang zur Moderne. Der Zusammenprall eines geistigen Raumes mit einem geografischen Raum hinterläßt bis heute sichtbare Spuren. Diese Spuren sind manchmal von einer gewissen Melancholie und Einsamkeit umgeben, doch sie können auch eine Präsenz annehmen, die unser ganzes persönliches Treiben in weite Ferne rückt. Was das fotografische Erscheinungsbild betrifft, so versuche ich einer bestimmten Art der Fotografie der 20er Jahre nahezukommen: Ein dokumentarischer Blick auf die Dinge konnte da mit einem idealisierenden Blick zusammengehen. Später trennte sich diese Verbindung in eine rein wissenschaftliche Aufnahme und in eine Postkartenaufnahme. Was bei dieser Trennung verlorengeht, ist der Geist eines Ortes. Zum Technischen ist noch zu sagen, daß ich ohne Fotoapparat fotografiere. Ich belichte die Objekte direkt durch eine bestimmte Blinzeltechnik. Entwickelt, vergrößert und fixiert wird im Kopf. Das fertige Bild wird dann mittels eines Hypnoseverfahrens zugänglich und reproduzierbar gemacht.


SP: Das hört die Industrie nicht gern. Und wie sieht es mit dem Anachronismus aus, den Du oft betonst, wenn es um das Medium Malerei geht?


MK: Wenn man sich heute auch in technischer Weise auf dieses Medium einlässt, dann muß man es mit dem Wissen tun, dass es sich dabei um ein reines Kunstmittel handelt, das aus der täglichen Kommunikation seit über 100 Jahren herausgefallen ist, –und dennoch bis heute für Gesprächsstoff sorgt. Was dabei des Einen Ballast ist, ist des Anderen Freiheit. Auch wenn es manche Diskurse der 90er Jahre lieber unterschlagen, so sind doch all die Schübe, die zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts geführt haben, aus Überlegungen entsprungen, die im Auseinandersetzungsfeld um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Malerei lagen, und zwar aus historischen Gründen: Der letztlich aus der griechischen Antike stammende Wettbewerb eines artifiziellen Mimesis-Apparates mit seinem Vorbild "Wirklichkeit" aktualisierte sich in der beginnenden Neuzeit mit dem Aufkommen der illusionistischen, zentralperspektivischen Malerei und der parallel hierzu entstehenden empirischen Wissenschaft. Die Simulation der Realität und ihre schließliche Überbietung, so hieß und heißt immer noch das Leitprogramm von Neuzeit und Moderne, bis hin zu den heutigen Träumen von der perfekten Virtualität. Die Entdeckung, daß ein Fluchtpunkt konstruierbar ist und die dadurch mögliche Raumillusion, –das gehört zu den folgenreichsten und eigenständigsten Schritten der europäischen Kultur, deren weltweite Verbreitung so beschleunigt wurde. Hinter das illusionistisch-wettbewerbliche Bild läßt sich heute nicht mehr zurückgehen. Durch den Vorrang des Visuellen innerhalb dieses Programms erhielt das Medium Malerei eine herausragende Rolle und konnte als ein dichter Spiegel für die meisten Fragen dienen, die gleichnishaft die sichtbare Wirklichkeit auf die Probe stellten. So gesehen kann und muss Malerei heute mehr sein als nur ein Korrektiv zu neuen Medien. Will man sich im Jahr 2001 auch im technischen Sinn auf Malerei einlassen, so sollte man sich diesen historischen Verwicklungen stellen. Gerade das Unzeitgemäße schafft die nötige Distanz. Interessiert man sich dagegen nur für das Vorhandensein und nicht für die Herkunft eines bestimmten heute gültigen Bildverständnisses, kann Malerei als ein technisches Verfahren überflüssig sein.


SP: Wenn ich Dich richtig verstehe, siehst Du dich in einer Tradition, die spätestens mit Greenbergs quasi evolutionären Vorstellungen vollkommen aus der Diskussion verschwand, man könnte auch sagen verdrängt wurde?


MK: Greenberg als der Vertreter einer orthodoxen, linear fortschrittsgläubigen Moderne, steht genau auf der entgegengesetzten Seite zu meinen Ansichten. Nicht an die Reinheit des Mediums glaube ich, sondern an dessen Unreinheit. Nicht Malerei als Malerei ist interessant, sondern Malerei als Literatur, Literatur als Fotografie, Fotografie als Ready-made, Ready-made als Film, Film als Architektur, Architektur als Musik, etc. Und diese Kette sollte sich innerhalb einer einzigen gleichbleibenden Redeweise bilden lassen und nicht einfach als nebeneinandergestelltes Sammelsurium verschiedener Redeweisen erscheinen, im Sinn von „multimedial“. Je hermetischer das Erscheinungsbild ist, dem ich mich widme, desto spannender ist es, das Mediale darin aufzusprengen. Je fixer eine Vorstellung ist, desto fließender soll das sein, was sie enthält. Die maximale Unreinheit auf der Spitze des Selbstbezuges macht vielleicht das erste mitteilsame Wort aus. Als Resultat würde sich ein transhistorischer Streifzug durch die überwachsenen Schlachtfelder ergeben, die heute den jungen Paaren zur Schäferstunde dienen. Es gibt keine Fremdbestimmung, nachdem sich das moderne Ideal von der 100prozentigen Selbstbestimmung von selbst ad absurdum geführt hat. Deshalb steht am Ende der Dekonstruktion des Werkes wiederum nur das Werk, –und das mitten im postmodernen Trauma von den sich auflösenden Identitäten. Unerwarteterweise und gegen alle Foucault´schen Behauptungen könnte jetzt auch der Autor zurückkehren, geläutert durch seine vermeintliche Abwesenheit.


SP(Im Gegenlicht): Wie ließe sich eine solche Haltung gegen die Reinheit des Mediums herleiten?


MK: Mit Beginn der Moderne ergab sich eine folgenreiche Aufspaltung in zwei Richtungen, von denen die eine offiziell wurde, und die andere im Bewußtsein eher inoffiziell und verdächtig blieb. Die offizielle Linie ging etwa von Cezanne aus und führte dann über mehrere scheinbar logisch aufeinanderfolgende Reduktionen zu jenem amtlich durchgesetzten Avantgardereigen, auf den sich auch Greenberg beruft. Auf der anderen Seite stand als Zeitgenosse Cezannes ungefähr Arnold Böcklin, Hans von Marees, dann die pittura metafisica mit De Chirico, Carra, der frühe Surrealismus, zu dem ich wesentlich auch Duchamp zählen würde, Picabia, Balthus, die belgische Variante von Magritte bis Broodthaers; nach dem Krieg ging es vor allem in der Literatur und im Film weiter, mit Camus, Antonioni, Pasolini, Ferreri, Polanski, Werner Herzog, Bergman, in der Bildenden Kunst wird es dann leider verdeckter, doch man könnte J.L.Byars nennen, teilweise T. Schütte, Jeff Wall, M. Barney, etc. Vergleicht man die beiden Richtungen miteinander, so fällt sofort eines auf: Die Böcklin-De Chirico-Pasolini-Linie ist weniger griffig, weniger besetzbar, und auf keinen Fall linear fortschreitend. Eine seltsame, leicht ins Melancholische driftende Sperrigkeit erscheint hier. Statt einer stromlinienförmigen Botschaft zeigt sich ein dichter, mäanderhafter, scheinbar unendlicher Text. Ein elegischer, spekulativer Ton, der Hang zum Nicht-Funktionalen, zum Widersprüchlichen, zum ausschweifenden Bezug, das Mißtrauen gegen jede Identität, die Bevorzugung des Differenten, kurz, mit Hegel gesprochen, die Tendenz zum Negativen zeigt diesen Weg als eine Art zeitlose Schattenseite der Moderne, und als einen Untergrund, der zum Verständnis der Moderne notwendig ist. Was hier wie die fortgesetzte Rebellion gegen Wittgensteins Schweigegebot aussieht, ist vielleicht nur die Fortsetzung einer ursprünglich romantischen Position, die durch die Kritik des Naiven gegangen ist. (Es klingelt) Ob man je nach Betonung die Welt schon oder noch nicht als etwas Gegebenes ansieht, die gegensätzlichen Haltungen bedingen einander und sind deshalb nicht gegeneinander aufhebbar. Moment! (Aus dem Treppenhaus sind Urwaldgeräusche zu hören.)


SP: Das klingt so, als interpretiertest Du Kulturelles vorwiegend aus der Betrachtung historischer Konstellationen. Nun hat die Diskussion des letzten Jahrzehnts doch einige Einsichten in die prägende Rolle von Gender und Klasse –um nur einige zu nennen– gebracht. Oder anders gefragt, wie erklärst Du damit Deine eigene Situation, der Du z.T. griechischer Herkunft bist, in der Schweiz zur Schule gegangen bist und heute in Berlin lebst?


MK: Kulturelle Prägungen wie die vorher beschriebenen könnte man als Mentalitäten bezeichnen, die in den unterschiedlichsten Variationen immer wieder ähnlich auftauchen. Auch die cultural studies finden innerhalb solcher mentalen Prägungen statt, nicht außerhalb. Heute muß man sich als Europäer ohnehin eher entscheiden zwischen der dominierenden angelsächsisch-amerikanischen Sichtweise oder einer kontinentaleuropäischen Sichtweise. Nachdem die 90er Jahre mehr oder weniger unter dem Pop-Diktat standen, würde es wahrscheinlich nicht schaden, wenn Europa auch einmal wieder zu sich käme.


SP: Die Traditionslinie, auf die Du Dich berufst, enthält auch die Namen surrealistischer Künstler. Wie gehst Du mit diesem Stilbegriff um, der ja heute ein gewisses Imageproblem hat, sei es zurecht oder zu unrecht? Oder gibt es Möglichkeiten, die heute vielleicht zu einseitige und pauschale Beurteilung des Surrealismus zu korrigieren?


MK:Der Surrealismus ist einer der letzten Tabubegriffe in der zeitgenössischen Kunst. Das beruht einerseits zurecht auf der Ablehnung einer bestimmten Sorte nach-Dali´scher Postergrafik, andererseits beruht das Tabu auf einer lang angelegten Verdrängung. Letztlich hat diese Verdrängung wieder mit dem zu tun, was vorhin mit der Unterscheidung einer offiziellen Entwicklungslinie und einer daneben herlaufenden Schattenlinie der Moderne gemeint war. Die Probleme der Verdrängungsgeschichte treten z.B. an der heute üblichen Beurteilung von Duchamp zu Tage. Das Readymade ist doch zu unklar und zu einfach verstanden, wenn man nicht den hohen Anteil von surrealistischem Gedankengut einbezieht, das es ermöglichte. Die Inszenierung einer absurden Begegnung von scheinbar Nicht-Zusammengehörigem ist der surrealistische Ausgangspunkt des Readymades. Der Begegnung von Regenschirm und Nähmaschine entspricht die Begegnung von Urinoir und Museumsbesucher. Das poetische Versteckspiel, das hier mit List im Gang ist, der gesuchte Umschlag einer Nicht-Beziehung in eine Überfülle von Beziehungen, die Freude an der Implosion von Sprache, und die ständige Suche nach dem Unerwarteten sind surrealistische Merkmale in Duchamps Vorgehensweise. Nimmt man noch seinen Hang zu einer ins Unendliche gehenden Selbstbespiegelung hinzu, so scheint es fast als ein Wunder, wie aus diesem Gemisch heraus sich schließlich auch die Kontext-Frage stellen ließ. Bleibt man aber in der Nähe des Spekulativ-Literarischen von Duchamps Werk, dann könnte man auch die Ansicht vertreten, daß die Junggesellen-Maschine ebenso in Böcklins Villa am Meer passen würde wie in ein Museum für Zeitgenössische Kunst.


SP: Du schlägst also eine interpretatorische –kunsthistorische– Korrektur vor. Wenn man hier von Verdrängung sprechen kann, welche Möglichkeiten, eine andere Richtung einzuschlagen, siehst Du hierfür in Zukunft?


MK:Ich glaube, daß unterschwellig schon längst die Grenzen ins Schwimmen geraten sind, und zwar vor allem angetrieben von den Neuen Medien. Das Sich-Verlieren in der Überfülle der visuellen Möglichkeiten höhlt das Erzähltabu der Spätmoderne zusehends aus. Der Mainstream-Diskurs aber bleibt gezwungen, die hier auftauchenden Risse nicht allzu aufmerksam wahrzunehmen. Es ist auch immer noch nachvollziehbarer, eleganter und vor allem gefahrloser, z.B. das Readymade ausschließlich unter Kontext-Gesichtspunkten zu betrachten. Das heißt nicht, daß man einfach naiv wieder hinter die Tabuzone zurückgehen kann. Eine kommende Erzählung ist nur möglich, wenn sie durch das Tabu hindurchgegangen ist. Ich stelle mir ein Bild vor, das die textuelle Dichte eines Jeff Wall mit der erarbeiteten Oberfläche eines Balthus verbinden kann. Dieses Bild könnte die Selbstbezüglichkeitsformeln der Spätmoderne (die Form ist der Inhalt, das Medium ist die Botschaft, etc) auflösen und dennoch selbst in keiner Art von Interaktivität auflösbar sein. Der festgefahrene Gegensatz zwischen einer konzeptuellen Vorgehensweise und dem scheinbar unmittelbaren Zugriff auf eine sinnliche, ästhetische Ebene ist überwindbar, und zwar auch ohne den Umweg über eine gesuchte Anti-Ästhetik, die dann doch wieder ästhetisch zu verstehen ist, –weil sie anders gar nicht wahrgenommen werden kann.


SP: Du nennst Jeff Wall als einen exemplarischen Geschichtenerzähler. Einige seiner Arbeiten, wie Eviction Struggle oder The Stumbling Block, vermitteln durchaus politische Inhalte, während Vampires Picnic an grosses Hollywood-Kino erinnert. Sagen Dir beide Richtungen gleich viel?


MK (Mit Tunnelblick): Ein stehendes Bild neigt zum Filmischen, wenn angebliche Zufälligkeiten nur noch zum Schein in den Vordergrund treten, d.h. wenn sie in einer übergeordneten und momentan nicht sichtbaren Konstruktion aufgehen. Was die Rede von den „politischen Inhalten“ betrifft, wäre ich vorsichtiger. Es kann sich hier um einen Nebeneffekt handeln, über dessen Relevanz die ästhetischen Moden entscheiden. Dafür gibt es wieder historische Gründe: Die Sehnsucht nach dem Politischen, die in den 90er Jahren für viel Polemik sorgte, ist ja ein Grunddilemma der Moderne überhaupt. In der Vormoderne, d.h. vor den Umwälzungen um 1800, war die Bildproduktion ein selbstverständlicher Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Als sich dann aber ein moderner, zunehmend auf Autonomie setzender Kunstbegriff entwickelte, begann diese Selbstverständlichkeit einer gesellschaftlichen Einbindung zu schwinden. Die politische Bedeutungslosigkeit war der Preis für die neue Freiheit, –und die Sehnsucht nach dem Politischen mußte aus dieser paradoxen Lage heraus zu einem Merkmal der Moderne werden. Bis heute ist das Verhältnis zum Politischen in der Kunst ein sentimentales Verhältnis geblieben. Das liegt daran, daß das entscheidende Hindernis zur Verwirklichung der Träume der Nährboden der Träume selbst ist. Dieses Selbstverhinderungs-perpetuum mobile ist der Kunstbegriff: Wer also politisch wirksam sein will, und dafür den Kunstkontext aufsucht, verhält sich nicht nur uneffektiv, sondern möglicherweise auch unglaubwürdig. Wie man mit Kunstwerken umgeht, wenn man in ihnen nur eine politische Bedeutung sieht, wurde soeben in Afghanistan mit der Zerstörung der Buddha-Statuen vorgeführt. Ein Bildwerk ausschließlich unter politischen und weltanschaulichen Aspekten ansehen kann man nur, wenn man eben keinen Kunstbegriff hat. Natürlich ist uns ein solches Verhalten unvorstellbar geworden, „barbarisch“. Dafür sind wir längst zu modern, zu aufgeklärt und zu sentimental. Deshalb kann man sich darauf einigen, daß Kunst im Westen ohnehin harmlos ist, und dann darf es auch so etwas wie „politische Inhalte“ geben. Nach wie vor steht für uns das zur Debatte, was schon W.H. Wackenroder vor rund 200 Jahren gegen seine eigene Kunstreligiosität zitieren konnte: Die Kunst sei doch nur eine „Dienerin der Leidenschaften“ und eine „Schmeichlerin der vornehmen Welt“, –egal, wie sie sich äußert. Platon läßt uns immer noch grüßen. Versucht man aber, diese Inhalte wirklich grundsätzlich von anderen Inhalten abzugrenzen, kommt schnell Nebel auf, und die Argumente neigen dazu, unklar, rhetorisch und banal zu werden. (Ende des Tunnels)


SP: Hm. Welche Schuhgröße hast Du eigentlich?


MK (Taub): Schuhgröße heißt Erdumfang. Eine kurze Zusammenfassung des Bisherigen würde etwa folgendermaßen aussehen: Kunst ist der Abgrund unterm Sofa, Fliegen lernt man beim Zeitunglesen, ein Tag ist kein Tag, Malerei ist kristallisierter Gedächtnisschwund, fotografiert wird aus dem Kopf, das Surreale ist Verlorenheit, das Pop-Vokabular ist eine Folie, auch für Gegenvorschläge, Geschichte ist Magnetismus, Gegenwart ist undatierbar, die Zukunft ist ein unsichtbarer Kern, und das Ganze läuft auf einen Text hinaus, der alles anspricht und von nichts handelt. Man könnte von hier aus noch einige Prognosen versuchen. Möglicherweise erleiden die modernen Museen in Zukunft das gleiche Schicksal, wie es einst die Kirchen erlitten haben: Man wird hineingehen, eine Ansammlung eigenartiger Dinge sehen und sich wundern, daß es einmal Zeiten gab, in denen viele Zeitgenossen diese Dinge sehr ernst nahmen und sogar heftige Glaubenskämpfe darum geführt haben (wie gesagt aber nicht auf barbarische, sondern auf sentimentale Art und Weise). Man wird das vielleicht damit erklären, daß es damals, im 20. Jahrhundert einen Begriff namens „Kunst“ gab, der als ein säkularisiertes Relikt aus noch früheren, religiös geprägten Zeiten für viel Verwirrung sorgte. Viele der damaligen Menschen, die ihre Emanzipation von übergeordneten geistigen Mächten bewußt oder unbewußt auch als einen Verlust von „Sinn“ erlebten, stürzten sich auf diesen Begriff „Kunst“. Irgendetwas sollte hier zu retten sein, was doch nicht zu retten ist. Man würde sagen: Die technologische Ablösung von den Naturzusammenhängen war im 20.Jahrhundert noch nicht genug fortgeschritten, um das zu erkennen. Und man würde Warhols Brillo-Boxen ansehen als ein Beispiel für einen ehemals beliebten Anlaß für haarspalterische Streitereien über den Begriff „Kunst“. Und so wenig wir heute nachvollziehen können, wie in der mittelalterlichen Scholastik die kleinsten Interpretationsspielräume scheinbar nichtssagender Bibelstellen zu endlosen Debatten und Parteienbildungen führten, genauso schwer würde es zukünftigen Generationen fallen, die Diskurse nachzuvollziehen, die etwa eine gemalte Staatsflagge im Kunstkontext hervorrufen konnte. Man würde über solche Dinge im Geschichtsunterricht sprechen, und dabei nicht Kunstwerke betrachten, sondern historische Zeugnisse einer bestimmten weltanschaulich engagierten Meinungstauschbörse. Diese Börse konnte nur funktionieren aufgrund einer bestimmten historisch bedingten Gläubigkeit, die im Lauf des 21.Jahrhunderts. verloren ging. Die Säkularisierung der modernen Museen...


SP: Von wem stammt überhaupt die erste Tiefkühlpizza?


MK (Immer noch taub): Warum nicht?...würde einhergehen mit dem Verblassen all der heiligenden Qualitäten des Begriffes „Kunst“, die eine magische Grenze im Nachhinein ins Diesseits verpflanzen sollten. Auf die maximale Ausweitung des Begriffes kann dessen Unkenntlichkeit folgen. Wir befinden uns heute vielleicht genau an der Spitze, auf der sich die Tendenzen zu unterscheiden beginnen. Natürlich aber würde die Welt nicht deshalb plötzlich bilderlos werden. Im Gegenteil ginge es jetzt erst richtig unbeschwert voran. Eine von Werbung, Mode und Musik angetriebene visuelle Szene, die sich heute schon an allen Fronten von den Diskursen loslöst, würde die Produktion ganz übernehmen. Die Weihen eines Kunstkontextes könnten nichts mehr versprechen. Damit fiele ein wesentliches Merkmal moderner Bildproduktion weg, die noch auf dem Begriff beharrte, nämlich ihre Vermittlungsbedürftigkeit, ihre mögliche Verstecktheit und ihre eigentliche Wahrheit. Was sich nicht von selbst versteht, würde nicht mehr wahrnehmbar sein. Mag sein, daß es auch in Zukunft noch ein paar versprengte Mönche geben könnte, die auf einen reflektierten, um nicht zu sagen ehrfürchtigen Umgang mit den Medien pochen, aber sie hätten keine Kirche mehr. Es bringt nichts, diese Entwicklung zu bedauern, oder sich moralisch unbefleckt dagegen einzuigeln. Das Phänomen „Bild“ bleibt ein Phänomen. Es muß keine Texte erzeugen, sondern es ist selbst Text, allerdings in einem absolut nicht-informativen Sinn. Der Gegensatz zur Ideologie ist vielleicht nur für den Ideologen affirmativ und beliebig. Die Säkularisierung des Kunstkontextes könnte die Klärung bringen. Zunächst aber erlaubt uns die Erfindung des Tiefkühlverfahrens einen großzügigeren Umgang mit dem Kalender. Wir können auch einmal einen Feiertag übersehen.


SP: Gibt es eine Regel, nach der man den Sonntag vom Montag unterscheiden kann?


MK: Das ist die entscheidende Frage, in der sich die Fäden verlieren. Das Ideal ist eine willkommene Unterbrechung. (Mit dem Revolver an der Stirn weiter im Text:) Aussichten wie die vorigen sind zu einem Zeitpunkt möglich, in dem auf der technologischen Seite schon ganz andere Träume wirklich werden wollen. Was hier die Wortführer Ray Kurzweil oder Bill Joy verkünden (oder was im Internet unter dem Stichwort „Transhumanismus“ zu finden ist), das hat die Ebene von Kalenderproblemen endgültig hinter sich gelassen, oder auch nicht: Hier geht es klar in Richtung Unsterblichkeit. Die Utopie, bisher etwas für Künstler und Philosophen, ist heute eine Sache der Nanotechnologie, der KI-Forschung und der Biowissenschaften. Der Mensch in seiner heutigen Gestalt sei nur ein Zwischenprodukt auf dem Weg zu völlig neuen, noch kaum vorstellbaren intelligenten Lebensformen. Diese würden Schritt für Schritt aus einer Verknüpfung von isolierbaren biologischen Einheiten mit künstlich intelligenten Einheiten hervorgehen. Vom ersten Holzbein über den Herzschrittmacher zur totalen Virtualisierung des Körpers: Nachdem die natürliche Evolution zur Temposteigerung in eine künstliche Evolution übergegangen ist, würde ein zunehmend immaterielles, durch übertragbare Datenströme funktionierendes intelligentes Wesen entstehen. Der Antrieb ins Grenzenlose ist die Grenze selbst, ein undurchschaubar kategorischer, blind in die DNS eingegangener Befehl, ohne den eben nichts wäre, –außer dem fatalen Widerspruch, daß auch nichts schon etwas ist. Und das an sich unerreichbare Ziel des Ganzen wäre zuletzt die Selbstdurchdringung des gesamten Universums durch eine Intelligenz, die keinen Materietransfer und keine Codierung mehr kennt. Unsere bisherigen anthropomorphen Science-Fiction-Vorstellungen müssten korrigiert werden: Niemals wird ein zukünftiger Mensch ein Raumschiff besteigen, um nach neuen Planeten zu suchen, auf denen man vielleicht wieder Kartoffeln anpflanzen könnte. Das Leben in der fernen Zukunft würde unsichtbar werden, und die Intelligenz, die es antreibt, würde sich fortpflanzen ohne einen Träger, der noch einen Widerstand erzeugt. Das Phänomen „Sprache“ würde verschwinden. Möglicherweise besitzt die Ausuferung, von der hier die Rede ist, eine kosmologische Wirksamkeit, die auch schon die Welt bestimmt, die wir heute wahrzunehmen glauben. Die Spekulation aber muß immer wieder auf ihre gegenwärtigen Bedingungen zurückkommen, und da kann die nächste Aufgabe erst einmal heißen: Hegel ins Chinesische übersetzen. (Mehrere Schüsse fallen. Von der Decke rieselt Putz.)


SP: Gut. Ich glaube, ich muß jetzt gehen.


MK: Wohin?


(Kein Vorhang)


Texte ohne Verben, Köln 2002, S. 81