Studien zur Entstehung einer Ungeduld


patusan: ungeduld, typ i

Patusan, der letzte Ort des Scheiterns von Joseph Conrads »Lord Jim«, ist auf keiner Landkarte eingezeichnet. Erst durch das Verschwinden Patusans im Imaginären aber erhält die Handlung die suggestive Entrückung, die den zwingenden und schicksalhaften Aspekt der Ereignisse ausmacht: In dem letzten, nicht mehr erfassten Winkel der kolonialisierten Welt vollendet sich der Lebensweg Lord Jims, der hier als nach außen hin tragischer Antiheld auf den selbstbestimmten, authentischen Kern seiner Person stößt. Von seinem ersten Schiffbruch, bei dem er ein sinkendes Schiff voller Passagiere unbemerkt mit dem Kapitän verließ, bis zu seinem Aufenthalt in Patusan, wo er bei seinen Vermittlungsversuchen zwischen einer Freibeutergruppe und der Eingeborenensiedlung seines Refugiums den Tod findet, hat er einen Weg in immer fernere Weiten zurückgelegt. Dieser Weg erschien einerseits als eine subtile Flucht vor der Ungunst des Schicksals und vor der eigenen Unzulänglichkeit, andererseits aber als eine zunehmende Annäherung an das, was als ein identisches Zentrum seiner selbst – als eines modernen Individuums – gelten kann. Sämtliche Auflösungserscheinungen, die diese Identitätsfindung begleiten, leisten bereits dem reflexiven Furor eines nihilistisch gewordenen Zeitalters Genüge. Was an dem nur noch sagenhaft existierenden Ende der Welt geschieht, kehrt eine Geschichte um, die sich als eine expansive, immer weiter in unbekanntes Gebiet vordringende versteht: Aus der Expansion wird auf der Spitze ihrer kolonialen Ausuferung eine Implosion all der Bestandteile, auf denen das Gebäude bisher so selbstverständlich ruhte. Die Grenze, die in einem fernen Außerhalb vermutet wurde, zeigt sich in einem innersten und absolut flüchtigen Bereich.


sparta: ungeduld, typ ii

Auf diesem Umkehrpunkt einer extrovertierten in eine introvertierte Perspektive kann auch ein historisch andersgearteter Fixpunkt einer sich zwangsläufig vollendenden Entwicklung ins Blickfeld geraten, der angesichts seiner zeitlichen Entfernung inzwischen genauso sagenhaft entrückt ist wie in räumlicher Hinsicht Patusan: Dieser Ort könnte Sparta heißen. Man findet ihn auf der Landkarte, doch die Legende hat die Realität längst abgehängt. Heute ein provinzielles Landstädtchen auf der griechischen Peloponnes, befand sich hier – neben Athen – einer jener Ausgangspunkte europäischer Geschichte, die schließlich den gesamten Planeten politisch dominieren und kulturell prägen sollte – schließlich auch in Form ebenjener kolonialen Bewegung, die bei Joseph Conrad an ihr imaginäres Ende kommen sollte. Der Erfolg und die Kompatibilität der sogenannten westlichen Welt beruht bis heute auf den politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften der damaligen heidnischen griechischen Welt. Hier erhielt eine reiche orientalische Vorgeschichte erst den notwendigen Funken, und von hier aus wurde der kleine kompakte Schneeball geworfen, der dann zur globalen Lawine geworden ist. Eine expansive, agonal aus allen Naturkreisläufen ausbrechende Geschichte, in der es um ein dualistisch fortschreitendes Erfassen der Welt geht, trieb und treibt die Menschheit von hier aus an bis zur Erkundung der Galaxis und zur versuchten Urknallsimulation. In Sparta, das im Peloponnesischen Krieg als dem ersten Weltkrieg der Antike auch die fatale Rolle hatte, Athen zu besiegen, ist es heute ruhig. Und nur die Ungeduld, die hinter der vor- und zurückgreifenden Geste liegt, schafft den Kontakt zu einer Realität, die endlich auch ihre imaginären Konstanten bedingt.


minusio: ungeduld, typ iii

Zwischen den beiden halb realen und halb imaginären Orten, die Anfang und Ende einer ins Grenzenlose strebenden Bewegung markieren und verwischen, liegt Minusio bei Locarno. Hier starb am 4. Dezember 1933 Stefan George. Sein Tod an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt wird zum Symbol einer Verweigerung und eines Verschweigens. Die Zeit des „Geheimen Deutschland“, die in der Realität niemals beginnen sollte, weil sie schon in einer idealen Welt alle Bedingungen ihrer Begrenzbarkeit – Leben oder Tod – negieren musste, kann nur die aktuelle Zeit der verschworenen Mitglieder eines Kreises sein. Jeder Kontakt mit einer Wirklichkeit, die immer dialektisch vermint ist, musste den wahren und unnennbaren Kern des idealen Gefüges verraten und in sein Gegenteil verkehren. Der Drang in eine kosmopolitischgeheimdeutsche Sphäre der Unberührbarkeit musste besonders in einer historischen Phase der verhängnisvollen Verdichtungen auf seine hermetische Spitze zuführen, um jeden weiteren Versuch einer nochmaligen Namensnennung zu vereiteln. Diese Spitze war der Tod Stefan Georges im scheinbaren Abseits aller Windrichtungen und an einem Ort, der zwar existiert, aber eben nur als ein zufällig benennbarer toter Winkel der Zeitläufe im Tessiner Idyll: hinter einer Realität, der keine Relevanz mehr für den Eid auf den absoluten Wert eines tragischen Schicksals zugeschrieben werden kann. Nur durch die strikte Trennung von dieser Sphäre, welche die permanente Negation erst ermöglicht, kann die Verschwörung den Bruch überleben. Der Friedhof von Minusio bildet diese Brücke zwischen zwei Polen, die ansonsten nur ein Paradox verbindet. Alle drei Orte stehen so für je einen Typus einer sich selbst ad absurdum führenden Ungeduld: Patusan für die psychologische Ungeduld eines Individuums, das durch die Relativierung seiner Unsterblichkeit sterblich wird. Sparta für die historische Ungeduld eines expansiven Machtund Ordnungsgedankens, der sich zum Ende einer berechenbar gewordenen Welt selbst zersetzt. Und Minusio steht für die metaphysische, idealistische Ungeduld des religiösen oder ersatzreligiösen Glaubens an eine nicht mehr negierbare, nur noch panegyrisch thematisierbare Daseinsspitze, die beim Erreichen der Asymptote das Schweigen erzwingt. Doch wer denkt, dass mit einer derartigen Typologie irgendeine Systematik zu erreichen sei, der täuscht sich: Ungeduld könnte nur das Medium einer Indifferenz ausmachen, gegen die sie auf jeweils besondere Weise motiviert ist: Damit endlich ein Zustand erreicht sei, der nichts mehr offenlässt und in dem nichts weiter zu erwarten ist.


Halkyonische Tage, Köln 2013, S. 89