Romantik der Zukunft

1.

Schon in den ältesten Erzählungen der Menschheit unterscheiden sich zwei Sichtweisen voneinander, nach denen die Geschichte durch Fortschritt oder Rückschritt gekennzeichnet ist: Entweder geht alles vom Besseren ins Schlechtere, oder umgekehrt vom Schlechteren ins Bessere. Erstere Lesart, die eine „gute alte Zeit“ einer neueren, schwächeren und degenerierten Zeit gegenüberstellt, ist schon bei Homer ein Stereotyp, wenn z.B. in der Ilias die Kraft der alten Heroen um ein Vielfaches über alles gestellt wird, was ein gegenwärtiger Krieger vollbringen könnte. Dementsprechend erzählt der Mythos vom Goldenen Zeitalter bei Hesiod von einem ursprünglich einfältigen Glückszustand, der durch nachfolgende Verstrickungen in eine zunehmend feindselige Welt führt: Auf das sorgenfreie Leben im Paradiesgarten folgt die Mühsal der Arbeit, so erzählen die alten Schöpfungsgeschichten des Orients.
Bald aber, z.B. bei Xenophanes, Anaxagoras und Epikur, wurde hiergegen die Vorstellung einer umgekehrten Entwicklungslogik formuliert: Der Urzustand des Menschen sei von Mängeln und widrigen Lebensumständen geprägt, und erst durch Lernfähigkeit und zivilisatorische Disziplin kann er sich schrittweise aus dem beklemmenden und gewalttätigen Naturkreislauf in eine würdige Freiheit und selbstbestimmte Geschichte herausarbeiten: Erst das Leid, dann die Arbeit, und zuletzt – vielleicht! – das Paradies, so will es der Gegenentwurf zur mythischen Erzählung vom urtümlichen Idealzustand. – Zwischen der besseren Vergangenheit und der besseren Zukunft aber ereignet sich eine Gegenwart, in welcher der Erzähler beider Auffassungen seine Welt als ein Labyrinth der Kräfte erlebt, das ihn in beide Richtungen zugleich, nach vorne und zurück zieht: Dieses Zugleich der widerstrebenden Mächte ist nichts anderes als das Nadelöhr der Veränderung selbst, durch das jeder hindurch muss, der an der Veränderung zum Besseren und Schlechteren tätig oder betrachtend teilhat.


2.

Beide Deutungen der Menschheitsgeschichte erscheinen bis zum heutigen Tag in unzähligen Wiederauflagen, sei es aus religiösen, wissenschaftlichen, politischen oder auch ästhetischen Motivierungen heraus. Mit der beginnenden Neuzeit und Moderne verschärfen sich die unterschiedlichen Auffassungen zur Gewissensfrage und Grundorientierung jedes Menschen, der sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen hat: Zwischen Aufklärung und Romantik erstarren die einst mythisch gefärbten Erklärungsmuster zu dem oberflächlichen Antagonismus einer konservativen und einer progressiven Weltanschauung, deren gegenseitige Abhängigkeit und Bedingtheit immer mehr aus dem Blick gerät. Obwohl gerade an der Schwelle der Moderne einige zukunftsweisende Zwittervisionen stehen, die den Fortschritt gerade in der Rückbesinnung auf bestimmte Aspekte einer vermeintlich überschrittenen Vergangenheit sehen (Rousseau: Natur; Winckelmann: Antike Kultur; Hölderlin und Nietzsche: Dionysos), driften die Anschauungen jetzt auseinander und scheinen zwischen Kulturkritik und sozialer Utopie kaum mehr einen Kontakt zueinander zu haben. Die Verzerrungen, die mit dieser Trennung einhergehen, werden – so wird es das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zeigen – nicht von der zunächst „siegreichen“ aufklärerischen Seite der Entwicklung her zu korrigieren sein, sondern von deren zunehmend unterdrückter romantischer Seite aus, die aber hierfür zunächst auf einen komplizierten Seitenpfad ausweichen musste. Von diesem Seitenpfad, der an vielen Stellen bereits das Projekt einer Romantik der Zukunft enthält, soll hier die Rede sein.


3.

Nachdem die genannten Auffassungen zwischen Aufklärung und Romantik im Lauf des 19. Jahrhunderts in einen zunehmend ideologischen Grabenkampf gerieten, begann mit dem offiziellen Beginn des Zeitalters der Moderne, d.h. zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, dieser Weg der Moderne sich aufzuspalten in einen amtlich bestätigten Weg und einen hiervon verdrängten, untergründigen und eher unklar verlaufenden Weg: Die amtliche Richtung setzt ungefähr bei Cezanne an und führt über den uns bekannten Avantgardereigen, über Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus zu jener scheinbar fortschrittsorientierten Entwicklung, die schließlich seit Ende der 70er Jahre des 20. Jhdts. mit Concept und Minimal an ihren historischen Endpunkt geriet, – und dennoch bis heute den Mainstream prägt. Die andere, nicht-amtliche Richtung beginnt ungefähr mit Cezannes Zeitgenossen Arnold Böcklin und setzt sich über De Chirico, den frühen Surrealismus, über prominente Einzelgänger wie Balthus oder Francis Bacon fort, um dann, in der zweiten Jahrhunderthälfte, ihr zwielichtig verknüpftes Bildgeschehen vor allem im Film eines Bunuel, Antonioni, Bergman, Tarkowskij oder Pasolini weiterzuspinnen. Es ist hier die Genealogie einer Schattenlinie der Moderne von Nietzsche bis Lars von Trier aufzustellen, die den amtlichen Weg zwar begleitet und anregt, allerdings immer in einem die Zeitläufe verwirrenden Sinn, der jeden Gedanken an ein fortschrittliches Gesamtgeschehen untergräbt. Hier wirkt ein labyrinthischer, mythennaher, geschichtsverwobener, eurokontinental geprägter Diskurs, bei dem sich auf Schritt und Tritt die Böden verdoppeln und keine politische Korrektheit garantiert werden kann. – Man könnte die hier unterschiedenen zwei Wege der Moderne einerseits als „Mont-Sainte-Victoire-Moderne“ bezeichnen (nach Cezannes berühmten Studien vom Mont.-Sainte.-Victoire), und andererseits als „Toteninselmoderne“ (nach Böcklins berühmter Toteninsel). Die serielle Licht- und Farbanalyse einer „realen“ Landschaft wäre somit ein Ausgangspunkt des amtlichen Weges, während die mythisch-verdichtete Vision einer nicht-realen Szenerie ein Ausgangspunkt der Schattenlinie wäre.


4.

Bei flüchtigem Hinsehen ließe sich hinter dieser Unterscheidung zwischen Mont-Sainte-Victoire-Moderne und Toteninselmoderne wiederum nur die Entgegensetzung eines vorwärts gerichteten Blicks gegen einen rückwärts gerichteten Blick vermuten: Während die eine Partei eine diffuse Vergangenheit idealisiert, die so vielleicht nie stattgefunden hat, idealisiert die andere Partei eine diffuse Zukunft, die so vielleicht nie stattfinden wird. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass hinter der Toteninsel ein fiktionales Verhältnis wirkt, das weit über dessen genuin romantischen Schwebezustand zwischen unwillentlichem Vergessen und willentlicher Ausblendung hinausgeht. Die Fiktion, um die es hier geht, scheint einen Zeitraum zu überflügeln, in dem jeder Antrieb zu dessen folgerichtiger Durchmessung ins Stocken gerät: Aus einer kritischen Irritation, die der Weg ins Licht für seine fragwürdige Selbstvergewisserung verdrängt, wird immer mehr der entscheidende Aspekt einer Zukunft, die dem gegenwärtigen Treiben und Streben nach Veränderung die Bedingungen stellt, die eine geschichtliche Entwicklung erst denkbar machen. Was sich somit hinter der bedrohlichen Kulisse der Toteninsel und dem verschlingenden Schatten ihres irrealen Magnetismus verbirgt, ist alles andere als eine beschworene Vergangenheit. Es ist der für jede aufklärerische Analyse undurchdringliche Block einer in die Zukunft der Geschichte verlegten Vereinigung und Entmaterialisierung, die an der Verbindungsstelle zwischen religiösem und wissenschaftlichem Zeitalter die technologische Optimierung aller Lebensbereiche antreibt.


5.

Was aber bezweckt diese technologische Optimierung, in der sich das Zeitalter der Moderne und die mit diesem Zeitalter einhergehende „Entzauberung der Welt“ zu erschöpfen scheint, und wie erfüllt sie gerade in dieser Erschöpfung ihrer Ideale gegen den angeblichen Willen aller Beteiligten romantische Sehnsüchte? – Weil die romantische Kritik eines linearen Fortschritts nur noch vordergründig verlorenen Gründen folgt, geht es nicht mehr um die Abwehr von Veränderung, sondern um die Deutung ihrer Konsequenzen aus einem Schattengebilde, das die verborgene Lichtquelle in eine zukünftige Szenerie projiziert. Um diese Projektion zu verstehen, muss der Weg zu Ende gedacht werden, den Wissenschaft und Technik im Bund mit einer Kultur der Zergliederung und Entmythisierung gehen: Was schon zu antiken Zeiten harmlos mit Flaschenzug und Holzbein begann, zielt zunehmend auf den Ersatz sämtlicher sterblicher, d.h. individuell und materiell gebundener Komponenten des Lebens, bis alles Körperliche – nur der Körper ist sterblich – auf technisch konstruierbare Einheiten zurückgeführt werden kann, die dessen potentiell unendliche Funktion ermöglichen. Zugleich wird auf diesem Weg eine Verbindung zwischen neuronalem System und künstlicher Intelligenz hergestellt, die zuletzt die Endlichkeit auch der „Software“ des Lebens aufhebt: Was mit Wachstafel und Buchdruck ebenso harmlos begann wie die erste rudimentäre Körperprothese, wird schließlich mit Internetanschluss im Kopf und neuronalem Download nicht nur die individuellen Grenzen, sondern auch die Grenzen der Sterblichkeit verwischen und schließlich ganz überschreiten. Die Auflösung allen intelligenten Lebens in einen körperlosen und damit schrankenlosen Datenstrom ist das groß anvisierte Etappenziel einer Evolution, die mit der Durchdringung des Universums bis in die rotverschobene Schneckenwindung eines innersten Außerhalb alles nachvollziehen will, was sich bisher ereignet hat und bis in alle Ewigkeit noch ereignen wird. Der evolutionäre Druck, der zunächst die Überwindung des Todes fordert und dann sämtliche Bedingungen knacken muss, die das Überleben der Gattung noch an einen Materietransfer bindet, entlädt sich schließlich gegen jeden Widerstand einer von außen gehaltenen Form: Am Ziel der Bewegung wird das Leben vom Urknall bis zur letzten Metamorphose eines Elementarteilchens im Sekundenbruchteil seiner niemals endenden Sterbesekunde an dem Auge vorüberziehen, das sich endlich ohne Spiegel selbst erkennt. Jenseits einer in Vorher und Nachher noch teilbaren Zeit wird der Olymp als Göttersitz Wirklichkeit, nachdem ihn die mythische und wissenschaftliche Erzählung für Jahrtausende in ein phantastiches Niemandsland versetzte, wo allein Machbares und Unmachbares ohne Widerspruch verbunden waren. Die Leichtigkeit eines ewigen Lebens, in dem es keine Langeweile gibt, löscht den Wissensdurst einer sich selbst erforschenden Wissensmaschine, die als Weltgeist und platonisches Licht den Anfangs- und Endpunkt der wahrgenommenen Veränderung am selben Punkt des Kreises identifiziert.


6.

Sobald also der Zukunftsromantiker aus seinem fiktionalen Abseits heraus die Motive weiterverfolgt, die auf der tendenziell bildfeindlichen Lichtlinie der Entwicklung den Mythos beseitigen, beginnt der ausgeblendete Schatten das Feld zu überragen, auf dem die Motive ihren Anlass und Schlusspunkt erhalten. Die urtümliche Ausgangsfrage nach einer grundsätzlichen historischen Bewegungsart (vor oder zurück?), die Arbeit entweder als Strafe für unmündiges Verhalten oder als Bedingung für dessen Überwindung definiert, scheint sich auf diesem Feld der konvergierenden Licht- und Schattenlinie von selbst zu beantworten: Am Ende sämtlicher Entmaterialisierungsleistungen einer ins Grenzenlose ausufernden Intelligenz steht nicht eine kalkulierbare Abstraktion, sondern ein überbordendes Bild. Aus dem aufklärerischen Ideal ist ein romantisches Ideal geworden. Was an ungebundenen Elementen bei der antiromantischen Analysearbeit in der Luft liegt, kondensiert mit der romantischen Analyse dieser Arbeit: Das Bild, das am Ende aller Berechnungen den Sprengsatz jedes bildfeindlichen Diskurses durch seine absolut nicht-informative Qualität entschärft, wird zur Membran einer kosmologischen Einheit, durch die sich jetzt ohne Widerstand alles hindurchbewegt, was einst Leben oder Intelligenz genannt wurde. Natürlich wird in diesem beschließenden Moment auch die Unterscheidung eines Wortes hinfällig, das dem Wort Bild noch irgendeine ausschließende Funktion gibt. Bis dahin aber, d.h. vor dem Zeitpunkt, an dem die Konvergenz von Licht- und Schattenlinie jede Kennzeichnung des romantischen Fluchtpunktes erlaubt, ist der Zukunftsromantiker ein Schattenleser, der hinter dem dunklen Vorhang der mythischen Insel, hinter den surreal vernetzten Konturen seiner Ruinen, hinter der motivlosen Gewalttat von Camus’ „Fremden“ im blendenden Sonnenlicht, hinter dem psychokosmischen Melancolia-Unfall Lars von Triers, und auch hinter der Pasolini’schen Beschwörung einer heilsamen Entwurzelung in der archaischen Kargheit den immergleichen Weg ins Labyrinth erkennt, der erst mit der Abschreitung aller denkbaren anderen Wege zum Ausweg wird.


7. – ∞.

Wer sich gerne ablenken lässt, ist selbst schuld, wenn es nicht vorangeht, könnte man sagen. Doch die Ablenkung, der Seitenpfad, das unebene Gelände zeigen schließlich, dass es auch ohne Ablenkung nicht vorangehen kann: Je weniger der Zukunftsromantiker die Notwendigkeit einer Veränderung leugnet, desto zweckmäßiger ragen für ihn die jetzt schon entstehenden Ruinen aus dem funktionalen Panorama heraus. Er folgt ihren Spuren in ein Zwielicht hinein, das unentwegt zur Neudefinition aller Richtungen zwingt. Hier endlich, zwischen Vollmond und ausgeschaltetem Universum erkennt er die zu überwindende Schnittstelle zwischen Körper und Datenstrom, an der er gegen die metaphysische Hemmung seiner zahllosen Aufklärungen das Gepäck abstellt. Das Außen Vor seiner zukunftsromantischen Überbelichtung lässt ihn blinzeln und sich fragen, ob das schon oder immer noch der Weltuntergang sei: Keineswegs erwartet er eine Antwort, die eine Geschichte abschließt, die für ihn noch nicht einmal begonnen hat.