Kunst nach dem Chaos

Anmerkungen zu Michael Kunzes „Der Morgen“

—Rainer Metzger, 1990

Ein Roulette: Schillernd, kaleidoskopisch, greift Kreis in Kreis, umfängt ein Ring den anderen, legt sich Scheibe an Scheibe. Eine perfekte Maschinerie der Ordnung, ein Kugellager gewissermaßen, das das Getriebe der Welt lautlos, reibungslos gleiten lässt. Am Rand eines Ringes kleine Ausbuchtungen, sanfte Wölbungen, Segmente, Schutzhüllen für ein perfektes Innenleben. Dazu ein Rahmen, der auf den rechten Winkel schwört und das rotierende Gleichmaß kontrastiert. Ein Text, eine Unmenge an Rext begleitet das kreisende Schema, ein Text, der mehr ist als die Vorlage für eine Illustration, der ein Stück Literatur ist, eine Assoziationshilfe, eine Vision. „Auch ich bin das feurige Leben der göttlichen Substanz“, heißt es da, „ich flamme über der Schönheit der Fluren und leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen; und mit dem luftigen Winde gewissermaßen unsichtbar bin ich das Leben, das alles erhält, errege ich lebend alles…So bin ich als feurige Kraft in allem verborgen, und die Dinge entzünden sich selbst durch mich, wie der Atem unablässig den Menschen bewegt, und wie im Feuer die flackernde Flamme ist.“ Und so weiter in schwelgerischer Anrufung eines vitalen Prinzips. Die „Vita Integra“, das „Leben in höchster Potenz“, hält diese Rede, und man könnte das Ganze, Bild und Text, pantheistisch nennen, befänden wir uns nicht im zwölften Jahrhundert, und wüssten wir nicht um die verwirrenden Gesichte jener deutschen Ordensfrau namens Hildegard von Bingen Das Ineinander der Kreise versucht einer Vision Hildegards habhaft zu werden, genauso wie der Hymnus der „Vita Integra“. Das Ineinander der Kreise stellt die Hierarchien des Himmels dar, es ist eine Engelmaschine. Und es ist eine Beschwörung perfekter Harmonie, ordnungssüchtig, ganzheitsfanatisch.
      Ein Roulette: Schillernd, kaleidoskopisch, greift Kreis in Kreis, umfängt ein Ring den anderen, legt sich Scheibe an Scheibe. Die Beschreibung des Kolossalgemäldes „Der Morgen“ müsste dieselben Metaphern ansetzen, die bei der Buchillustration zum Tragen kommen, die gleichen Assoziationen an Räderwerk und Maschinerie aufkommen lassen, um das Bemühen um eine Art Kosmos, eine Ahnung von Stabilität zu greifen. Schier noch pedantischer als die romanische Miniatur geht Michael Kunze diesen Versuch an, die 36 Quadratmeter, die sein Opus Magnum einschließt, lassen ihm auch im Wortsinn Raum. Nicht weniger als die selige Hildegard hat sich Kunze um literale Rechenschaft bemüht, die Parforce-Tour des Malens mit einer des Schreibens vereinbart und ein Textkonvolut erstellt, das eine veritable Habitilationsschrift abgäbe. Nicht weniger verwirrend auch als die Zeugnisses des Kodex geben sich Kunzes Räsonnements, Beschwörungen einer Zahlensymbolik, die um die Acht, etwa das biblische Signum der Erfüllung, um die Drei, etwa die Trinität, und um deren Produkt, die Vierundzwanzig, etwa die Anzahl der Weisen, der Apokalypse, kreisen- gerade so, wie das Gemälde selbst. Die perfekte Ordnung: Was Hildegard seinerzeit philosophisch meinte, müsste man heutzutage in das Vokabular der Physik kleiden – damals „ Ordo“, nunmehr „steady state“. Nichts weniger als Weltformeln stehen bei beiden auf dem Programm, und das Visionäre, das unermüdliche Kreisen im Bild und das leidlich Unlesbare im Text umschreiben die gelinde Paradoxie, den steten Fluss der Dinge in der fixen Formel zu bannen. Bei beiden. Und nicht nur bei ihnen.
       Eine der visuellen Weltformeln der Hildegard von Bingen war in einer der Tafeln aufgelistet, die Aby Warburg, Begründer der kunsthistorischen Denktradition der Ikonologie, in den zwanziger Jahren seinem „Mnemosyne-Atlas“ voranstellte. Die Warburg-Schule erschloss den Bildern neue Wege, in dem sie die alten rekonstruierte, in dem sie also nach dem Weiterleben jener visuellen Formeln fragte, die irgendwann im Orient oder im Okzident, in Persien, Indien, Ägypten oder sonstwo entstanden. Die Einleitungstafel mit der Vision der Hildegard von Bingen präsentierte sich zusammen mit acht anderen Darstellungen, die von der Einheit von Mikro-und Makrokosmos erzählten, in einem Sammelsurium interkultureller Muster, die auf welche Weise auch immer versuchten, im Zeichen den Lauf der Zeit aufzuhalten. Und diese Muster ähneln sich. Sie ähneln sich wie Kunzes „Der Morgen“ Hildegard von Bingens Illustration ähnelt. Die Bibliothek Warburg schmückte ihre Bücher gern mit einer Vignette, einem Ex-Libris-Bildchen, das das spätantike „MUNDUS/ANNUS/HOMO“ - Schema aufgreift. Isidor von Sevilla hatte es vor 1400 Jahren in seiner Enzyklopädie benutzt, die Vignette selbst folgt einem Holzschnitt des späten 15. Jahrhunderts. Konzentrische Kreise werden darin von einem Band umschlungen, das selbst aus acht ineinander laufenden Kreissegmenten besteht. Die Ähnlichkeit zu Kunzes „Der Morgen“ ? Frappierend!
       Mnemosyne, die Aby Warburgs Atlas anrief, war eine der antiken Schutzgottheiten für das Gedächtnis, und gerade im Bereich der Gedächtniskunst treffen wir immer wieder auf Darstellungen, auf Skizzen und Schemata, in denen sich weitere frappierende Ähnlichkeiten auftun. Ende des 16. Jahrhunderts modellierte Giordano Bruno sein Gedächtnissystem aus konzentrischen Kreisen in die – Bild und Text vermittelnd – Erläuterungen eingetragen waren. Gerade das Erinnerbare garantierte eine feste, eine stetige und stabile Welt, und der Ort, der auf dem Papier, im Schema, bei der Lernhilfe dem Gedächtnis auf die Sprünge half, hatte einen gleichermaßen fixen Stand in der Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit hing alles mit allem zusammen, rotierend zwar und in unablässiger Bewegung, aber keines der Elemente brach je aus der Harmonie der Sphären aus. „Brunos Annahme“, schreibt dazu Frances Yates in ihrer Untersuchung „The Art of Memory“, „Brunos Annahme, die Astralkräfte die die äußere Welt regieren, seien auch im Inneren wirksam und könnten dort zur Aufrechterhaltung eines magisch-mechanischen Gedächtnisses reproduziert oder eingefangen werden, erinnert einen auf seltsame Weise sehr an eine Denkmaschine, die mit mechanischen Mitteln weitgehend die Arbeit des menschlichen Gehirns verrichten kann.“ Die magiegetränkte Überzeugung von der Einheit von Mikro- und Makrokosmos hat ihr Pendant in unserer Gegenwart. Heutzutage steht der Computer für diese Überzeugung ein – ein Hinweis, ein Interpretationsansatz, der sich dann für Kunze fruchtbar machen lässt.
       Ein anderer dieser Spiritualisten aus der Spätrenaissance und Barock, selbst ein Apostel der Ars Memoriae, ist Jakob Böhme. Seine Ausgabe „Aller Theosophischen Schriften“ ziert ein Blatt mit der Darstellung „Menschwerdung Jesu Christi“. Ein scheibenförmiges Schema, selbst in sich gegliedert mit konzentrischen Ringen, nimmt die Gestalt des Kindes in sich auf, um die sich wiederum acht in Kreisen gebettet Flammen ranken: Die vertraute Geometrie. Hier nun ist das Thema des Beginnens angestimmt, das Thema des Morgens, ein Thema, das auf die Wiederkehr, auf die Zyklizität baut: Auf den Morgen folgen andere Tageszeiten, doch er wird wieder anbrechen. Die Einheit von Mikro- und Makrokosmos, die Beschwörung von Ordnung – und Kosmos heißt auf Griechisch nichts anderes als eben Ordnung – und das Vertrauen auf einen „Morgen“ greifen ineinander. Kunzes Kolossalgemälde ist in diesem Sinn historisch niet- und nagelfest.
       „Die Form der wissenschaftlichen Naturerklärung“, formulierte Ernst Cassirer, dessen „Philosophie der symbolischen Formeln“ der Warburg-Schule ihre Methodik erst ermöglichte, „wie sie seit der Renaissance, seit Galilei und Keppler…feststeht, besteht wesentlich darin, alles Sein in ein Werden, in räumlich-zeitliche Beziehungen aufzulösen und es in den Gesetzen dieser Beziehungen zu begründen.“ „Vom Sein zum Werden“ heißt Ilya Prigogines Hauptwerk zur Chaostheorie der Gegenwart, in einer Formulierung mithin, die von Cassirer stammt. Und Cassirer selbst setzt dieser neuzeitlichen Formel die traditionelle entgegen, für die Denker wie Bruno oder Böhme die letzten Ableger bilden: „Dieser Auflösung in die Elemente des Werdens und in ihre reine Größenbestimmtheit ist die astrologische Anschauung des Seins aufs Schärfste entgegengesetzt. Sie findet in jedem noch so kleinen Teil die Form des Ganzen wieder…Für die moderne Wissenschaft ist die Einheit, die sie sucht, die Einheit des Naturgesetztes als eines reinen Funktionsgesetztes; für die Astrologie ist es die Einheit des bleibenden und durchgehenden Bestandes, einer Struktur des Weltganzen.“ „Astrologisch“ nennt Cassirer das Vertrauen in die Korrespondenz von Mikro- und Makrowelt. Ihre Garantie ist das Vertrauen auf das „Bleibende“. Die moderne Naturwissenschaft, die auf das „Werden“ setzt, hat ihr den Garaus gemacht.
       Diese Naturwissenschaft diktiert den Erkenntnisfortschritt der Gegenwart. Termini wie „Chaos“ und „Entropie“ ranken sich um ihn, Begriffe, die dem Ungreifbaren, dem Instabilen, dem Zufälligen und Ungeordneten huldigen Kunze auf das entsprechend Anachronistische seiner monumentalen Beschwörungsformel intakter Ganzheitlichkeit hinzuweisen, hieße durchaus Eulen nach Athen tragen. Doch was kann ein Vollblutmaler tun, der sich nicht in Zahlen begraben will, der in der Darstellung, der Abbildung die Analogie braucht, die lineare Verbindung zwischen Zeichenwelt und realer Welt? Der nicht in Digitalität aufgehen will, in der komplexen Reduktion von Entwicklung auf die Zweiheit von Ja und Nein, und der sich nicht damit zufrieden gibt, alles nach seinem genetischen Code, seiner Geklontheit, seiner Simulierbarkeit zu erfassen? Die Antwort ist vielleicht: Er will erschöpfen. Völlig der Unendlichkeit, der Komplexität, der Universalität dessen, was Welt ist, bewusst, möchte Kunzes Malerei diese Unendlichkeit bannen. Das Unendliche ist bei Kunze die Schwelgerei, sind die Details, die sich in ihrer Kleinteiligkeit ständig zu überbieten suchen, das ist der Punkt in der Mitte, von dem sich aus Strahlen, Kreise, Geraden in perfekter Symmetrie über die Fläche breiten. Irgendwann ist in dieser Überfülle die Sättigung erreicht. Man glaubt es Kunze gewissermaßen, dem Chaos Herr zu werden, in dem er es in strikte Ordnung überführt. Voller Akribie stellt er dar, bildet er ab. Vielleicht ist es die Unausweichlichkeit der Überzeugung, etwas zu tun, was die Naturwissenschaft für hinfällig hält, die ihn zu solch veritablen Großtaten animiert. Noch einmal stürzt er sich in das Abenteuer, bildnerisch mit der Welt zu Rande zu kommen, um dabei den Betrachter glauben zu machen, in der Wirkmacht, der protzenden Rhetorik seiner Kolossalmalerei sei wirklich Universalität auf die Leinwand gebracht.
       „Das alles hat St. Hildegards Hinterlassenschaft nicht erschüttert“, heißt es in der Gedenkschrift zum 700. Todestag der Hildegard im Jahr 1979. „Im Gegenteil: die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts können bei allem Fortschritt, der allein in der Naturwissenschaft und im Technischen anzuerkennen ist, angesichts der Wunder des Weltalls und der Atome den Kosmos nicht besser beschreiben als St. Hildegard.“ Sehr betulich gibt sich dieser Text, doch verleiht er einem, man müsste sagen, nostalgischem Bedürfnis Ausdruck, einem Bedürfnis nach dem Schein von Harmonie in ihrer Unmöglichkeit. Kunzes Malerei ist nicht weit davon entfernt. Sie ähnelt den Mandalas, die C.G. Jung nicht müde wurde herauszustellen. Und genauso ähnelt sie dem „Mandelbrot-Set“, den computergestützen Einblicken in eine Art von Wesen des Chaos, die doch nichts anderes sind als Momentaufnahmen des Stillstands: Bilder fixieren immer, auch wenn sie noch so tief in die Unendlichkeit tauchen. Kunzes Kunst hat sich dem Paradoxon verschrieben, sichtbar zu machen, was sich jenseits visueller Erfahrung abspielt, was sich in Dimensionen ansiedelt, die kaum noch zu erkennen sind. Bewusst oder nicht greift er dabei auf Muster zurück, die diesem Paradoxon seit Urzeiten gegolten haben.
       „Beginnlosigkeit“ nannte Botho Strauß seine jüngste Publikation, in der er seiner Vorstellung des „steady state“, des ewigen, und heutzutage nach Begriffen der Physik theoretisierbaren Kreisverlaufs der Elemente frönt. Eine seiner Sentenzen trifft den Punkt einer Kunst nach dem, gegen das Chaos, und damit auch gegen Kunzes Kunst: „Das heißt nicht, dass es in Kunstwerken nicht die Erfindung des Einfachen, des Elementaren geben könne, nur weil diese in der Wirklichkeit oder in unserem Wissen von Wirklichkeit nicht mehr vorkommen. Es kann eben nicht bequem dasselbe Einfache und Elementare sein, wie es vor dem Wissen um seine Deplatzierung und Auflösung bestand. Die Kunst ist ein Ort der steten Ahnung (und nicht die Beschützerin) von Naivität.“


Rede zur Ausstellungseröffnung "Morgen", Forum Kunst Rottweil, 1990

Wertvolle Informationen für diese Interpretation lieferte Karl Clausberg, Kosmische Visionen – Mystische Weltbilder von Hildegard von Bingen bis heute, Köln - DuMont 1980