Kein Schatten ohne Rauschen

-Raimar Stange

Raimar StangeIm Zusammenhang mit Deinem Projekt Les Messieurs d’Avignon sprichst Du von den »bösen Buben der Moderne«, die »nicht wegzudenken (sind) aus ihrer jeweiligen zeitlichen und räumlichen Umgebung, stehen sie doch in einem schwierigen und widerspruchsvollen Verhältnis zu jenem scheinbar stringent verlaufenden Fortschrittsmodell, das nach einem amtlich geglätteten Verständnis als die Moderne bezeichnet wird«. Kannst Du das bitte ein wenig erläutern, vielleicht auch an einem konkreten Beispiel eines der »bösen Buben«?


Michael Kunze — Das Wort »böse« ist natürlich nicht in einem moralisch verurteilenden Sinn gemeint. Es bezeichnet eher das Haar in der Suppe, den notwendigen Störfaktor in einem allzu harmonisch ausgedachten System. Allenfalls ist hier eine Spitze gegen jenes selbstgerecht und stur gewordene Gutmenschen- Paradigma der 60er Jahre eingebaut, das nun schon mehr als 40 Jahre den Mainstream der westlichen Moderne prägt. Die Unstimmigkeiten, historischen Irrtümer und ideologiebedingten Lebenslügen, die diese Herrschaft zu einem nicht geringen Teil kennzeichnen, stehen heute zur Debatte. Ich glaube, dass sich hier für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ein Paradigmenwechsel ankündigt, der den Verlauf der Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frage stellen und neu bewerten wird, durchaus in dem radikalen Sinn, den Nietzsche in »Jenseits von Gut und Böse« ausspricht: Was der Gutmensch »böse« nennt, erweckt Sympathien, und umgekehrt.

       In diesem Zusammenhang ist Martin Heidegger ein gutes Beispiel für einen Störenfried. Durch seine Verwicklung in den Faschismus ist er natürlich einerseits Persona non grata, – dummerweise beruht aber ein wesentlicher Teil des modernen Denkens von Sartre bis Derrida auf seiner Philosophie! Diese Irritation wird von politisch korrekter Seite aus verbissen bekämpft, und je mehr sie bekämpft wird, desto bedrohlicher wackelt der eigene Boden. Der Störenfried kann nicht verdammt werden, ohne den eigenen künstlichen Frieden zu gefährden. Auf Gedeih und Verderb wirkt die Verbindung, und der Riss im scheinbar göttlichen Plan lässt sich auf Dauer nicht verbergen.



RSTDu sprichst, so verstehe ich es, einen Begriff von Fortschritt und Aufklärung an, in dem – Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben es in ihrer Dialektik der Aufklärung bereits 1947 geschrieben – bestimmte »böse«, irrationale, emotionale etc. Momente wegrationalisiert werden. Dieses wird dann von Fortschritt und Aufklärung mit einem Verlust der »Beziehung auf Wahrheit« (ebenda) bezahlt und, um noch einmal Horkheimer/Adorno zu zitieren, der »Fortschritt schlägt in Rückschritt um. Daß der hygienische Fabrikraum und alles was dazu gehört, Volkswagen und Sportpalast, die Metaphysik stumpfsinnig liquidiert, wäre noch gleichgültig, aber dass sie im gesellschaftlichen Ganzen selbst zur Metaphysik werden, zum ideologischen Vorhang, hinter dem sich das reale Unheil zusammenzieht, ist nicht gleichgültig«. Wäre in diesem Sinne Dein Bilderzyklus so etwas wie ein Stück engagierte Gegenaufklärung, die versucht, diesen immer noch vorherrschenden ideologischen Vorhang des all zu Cleanen zur Seite zu schieben?



MK — Ein Teil des angekündigten Paradigmenwechsels hat bestimmt damit zu tun. Dennoch meine ich, dass Horkheimer/Adorno die kulturellen Phänomene zu konventionell bewerten. Nietzsches Kritik an der Aufklärung und der dazugehörigen Moral ist sehr viel weiter gegangen und scheint mir heute aktueller als alles, was die Kritische Theorie dazu zu sagen hatte. Immerhin aber bringen Horkheimer/Adorno ein entscheidendes Gleichnis in die Debatte: Am Ursprung des abendländischen Menschen zwischen Mythos und Aufklärung steht Odysseus, der sich an den Schiffsmast fesseln lässt, um dem betörenden Gesang der Sirenen nicht zu verfallen, ihn aber doch wenigstens zu hören. Die Selbstfesselung des Odysseus als der erste Akt der europäischen Aufklärung bedeutet hier die Entmachtung der mythischen Naturgewalt, worin auch schon der Keim jener Entfremdung von sich und der Welt enthalten ist, die der europäische Mensch seitdem für seine List zu bezahlen hat. Gleichzeitig kommt hier zum ersten Mal eine nicht nur rational, sondern auch ästhetisch motivierte Distanz zur bedrohlichen Naturmacht ins Spiel. Die unglaubliche Dichte dieses Gleichnisses, das tatsächlich all die Komponenten enthält, deren gegenseitige Spannung schließlich zu der weltbeherrschenden Stellung des europäischen »westlichen« Menschen führte, ist kaum auflösbar: Rationalisierung des Mythos, Naturbeherrschung, technologische Emanzipation, die Entfremdung von den urtümlichen Mächten, die Trennung des Individuums von der Gemeinschaft für den ästhetischen Bann, all dies sind die Urmotive einer ersten europäischen Identitätsbildung und Abnabelung von Asien. Seitdem ist das Denken damit beschäftigt, die Fesseln des Odysseus entweder etwas zu lockern, oder doch wieder etwas fester zu zurren: Wie könnte man Odysseus befreien, ohne dass er doch wieder Opfer des Mythos wird? Wie könnte seine Fesselung zum Teil einer anderen Natur werden, in der seine Entzweiung von der Quelle des Verlangens doch wieder aufgehoben wäre? Sind seine Fesseln golden oder eisern? Was ist an seiner Distanzierung von der Naturmacht Illusion? Was bleibt an der verführerischen Gewalt des Sirenengesangs unüberwindlich? Wo trennt sich das »Schöne« vom Bedrohlichen?

       Adorno/Horkheimer verbeißen sich im Folgenden im so genannten »Verblendungszusammenhang«, den die Fesselung des Odysseus als die Kehrseite des ersten aufklärerischen Impulses mit sich bringt. Um der Gefahr neuer Mythenbildung in der Entfremdung zu entkommen, sieht Adorno nur den Ausweg einer beharrlichen Negativität. Das halte ich eher für eine schwache Lösung. Nietzsche dagegen plädiert an dieser Stelle für eine Intensivierung der ästhetischen Distanz zum Sirenengesang, verbunden mit einer fundamentalen Kritik an dem gesamten moralischen Wertesystem jüdisch-christlicher Herkunft. Nietzsche wittert in dieser Intensivierung die Befreiung eines neuen »übermenschlichen « Typus, der über das bisherige nach-tragische Wertesystem hinweg schreitet. Die Turbulenzen, die in dieser Deutung stecken, sind das Thema, das meiner Meinung nach den Nerv unserer Zeit trifft, und das die Messieurs d’Avignon als Vertreter einer anderen Moderne im 20. Jahrhundert verbindet. Mit einem neuen Verständnis dieser Zusammenhänge kann sich etwas für die Zukunft entscheiden.



RSTDeine »bösen Buben« stellen also so etwas wie eine Ahnengalerie von »Ästheten« dar, die im Rahmen der von Dir ins Spiel gebrachten »Turbulenzen« künstlerisch und gedanklich experimentiert haben. Warum, das ist mir als Bassspieler selbstverständlich sofort aufgefallen, sind da Bildende Künstler, Philosophen, Filmregisseure und Schriftsteller, aber keine Musiker vertreten? Wären Richard Wagner oder Jim Morrison etwa nicht interessant in diesem Kontext? Und warum gibt es bei Dir keine »bösen Mädels«?



MK— Was die bösen Mädels betrifft, so hat die ganze Arbeit ohnehin mit einer komplizierten Opposition der Geschlechter zu tun: Die Frauen stehen im Sonnenlicht, die Männer wirken im Schatten. Wahrscheinlich eine wohlwollende Umkehrung der beliebten feministischen Kampfaufstellung. Fast alle der hier genannten Protagonisten haben in irgendeiner Weise ein »Frauenproblem «, von Nietzsche bis Houellebecq. Die einzige Stelle, an der es zu einer einigermaßen natürlichen Begegnung zwischen Mann und Frau kommt, ist der Kuss im Park von Antonionis Blow up, und ausgerechnet diese Szene ist der Ausgangspunkt eines surrealen Mordfalls: Der Mann liegt kurz darauf tot auf dem Rasen, und die Frau, die den Mord vermutlich eingefädelt hat, wird zur Geliebten des fotografierenden Zeugen, der trotz seines Bildes im Dunklen tappt.

      In der Liste der bedrohten Messieurs wären Richard Wagner, Jim Morrison oder Frank Zappa sicher auch zu nennen, doch es gab einfach technische Grenzen, die eine Konzentration auf Bild und Text verlangten. Enzyklopädisch kann man sowieso nicht vorgehen. Und »Ästheten« sehe ich hier übrigens nirgends am Werk. Dieses eigentlich nichts sagende Wort (das Adjektiv ist dagegen noch verwendbar) ist sowieso vergiftet von einer ungesunden und alles verzerrenden Ideologisierung der Begriffe seit den 60er Jahren, einem Kontext also, den ich ja gerade für obsolet halte. Der »Ästhet« ist hier eine klar negativ besetzte Figur, die in einem dämlichen Gegensatz stehen soll zum politisch integeren, sozialkritischen, basisdemokratischen, antibildungsbürgerlichen, kosmetisch revolutionären Überwinder der Kunst-und- Leben-Schranke, – was für ein Blödsinn!



RSTOkay, dann reden wir jetzt halt über »Ästhetisches «: Du malst deine Messieurs d’Avignon mal als z. B. »reines«/»bloßes« (nach einem Foto gezeichnetes) Porträt, mal etwa eher als narrativ komplex aufgeladenes Ensemble. Kannst Du bitte einige Worte zu Deiner malerischen Strategie sagen? Und: Hast Du nicht Angst, gerade zur Zeit des angesagten Malerhypes (Frauen kommen da auch nicht vor), in die »Malerfalle« zu tappen, indem Du unfreiwillig die Faszination vieler BetrachterInnen an der altehrwürdigen »Königsdisziplin« Malerei befriedigst, statt ihr Interesse auf den konzeptionellen Kern Deiner Arbeit zu konzentrieren?



MK— Malerei als ein altes Medium unter neuen Medien, und als ein möglicherweise sinnvolles Korrektiv neuer Medien, ist an und für sich erst einmal nichts Negatives und auch nichts Positives, – Königsdisziplin hin oder her. Die generelle Negativ-Bewertung von Malerei dagegen stammt wiederum, und noch immer aus jenem überholten Konsens der letzten vierzig Jahre, in der eine Ideologisierung aller kulturellen Bereiche u.a. ja auch schon jenen Deppentypus des »Ästheten« erfand (der in der Kunst natürlich vornehmlich Malerei gut finden sollte). Man kann nicht oft genug sagen, dass alle Wertmaßstäbe und dogmatischen Verkleisterungen, die aus dieser Phase einer »amtlich« gewordenen Moderne stammen, abzulehnen sind. Man muss das alles in Frage stellen, so grundsätzlich wie es nur geht.

Dennoch hast Du natürlich recht, wenn Du da eine »Falle« siehst. Diese Falle besteht für alle künstlerisch relevanten Medien, und ich würde sie eher die »Selbstbezüglichkeitsfalle« oder »Formalismusfalle« nennen. Diese existiert ebenfalls aufgrund eines amtlich-modernen Paradigmas, nämlich aufgrund der irrigen Maxime, dass die höchste Form der Bezüglichkeit der Selbstbezug ist, also »Die Form ist der Inhalt«, »The medium is the message «, etc. Das ist Unsinn, und nichts als Idealismus im Stadium der Verzweiflung. Bildnerisch führt das sowieso nur in die Wüste, in der wir dank der gleichgesinnten architektonischen Verödung der 60er und 70erJahre (»Ornament ist ein Verbrechen«) heute täglich leiden dürfen. Es ist typisch, dass gerade auf diesem Gipfel der Blindheit und der pseudo-antiästhetischen Begriffsverwirrung die Verbindung von »Kunst und Leben« zum Ideal wurde.

Gegen diesen Kontext gesprochen gilt dennoch für alle Medien, wie auch für Malerei heute: Malerei, die nur lecker sein will und nur sich selbst genügen will, ist überflüssig. Entscheidend ist dagegen der Einschluss einer textuellen Ebene, die über die formalen Grenzen hinausführt, altmodisch gesprochen ein »Inhalt«, der sich auf Anderes bezieht als auf das Medium und das Selbst. Malerei muss wieder ein Mittel werden, und herrauskommen aus der Falle des Zweckhaften. Nur in der Anwendung kann sich ein Medium bewähren, nicht im Selbstbezug. Erst dann kann das Erscheinungsbild von mir aus auch virtuos und feierlich sein, wie es z.B. in der alter Malerei ganz selbstverständlich war. Bleibt die textuelle Ebene aber leer, ziehe ich Minimal Art vor. Im Fall der hier vorgestellten Genealogie steht die Malerei im Dienst der Interpretation einer programmatischen Gesamtidee: Das zugrunde liegende Fotomaterial, das in der malerischen Umsetzung z.T. starke Eingriffe erfährt, könnte ohne diese Umsetzung nichts hergeben, das zur Herstellung des beabsichtigten Panoramas ausreichen würde. Gerade aufgrund der historisch tief reichenden Wurzeln, um die es hier ja teilweise wirklich geht, ist das Medium Malerei, das über diese Wurzeln eben verfügt, das geeignete Mittel.



RSTIch teile Deine Kritik an einem in-sich-leerlaufenden Formalismus voll und ganz. Da, man sehe nur die Arbeiten von Tomma Abts oder Anselm Reyle, wird nichts als abstrakte »Hotelbildmalerei« (Th. W. Adorno) produziert, weil diese Arbeiten jedweden Bezug auf eine (kritische) gesellschaftliche Praxis ablehnen. Dies aber war noch bei der formalen Abstraktion der frühen Moderne, auf die sich der Formalismus unserer Tage so gerne, aber letztlich scheinheilig bezieht, explizit Programm. Es lohnt sich in diesem Kontext immer noch z.B. die (revolutionären) Schriften des Bauhauses (wieder) zu lesen. Du allerdings lehnst eine Verknüpfung von »Kunst und Leben« als falsch verstandenen Idealismus ab. Warum?



MK— Der Komplex, dass hier ein Spalt im Bewusstsein des europäisch geprägten Zeitgenossen vorliegt, trifft schon etwas Richtiges, und das ist spätestens seit der Fesselung des Odysseus ein Thema. Doch die Art und Weise, wie im Verlauf der späteren Moderne diese Sache beim Wort genommen wurde, hat eben einerseits in die hier besprochenen begrifflichen Aporien geführt, die heute zum Zerfall des ganzen Paradigmas beitragen, – und hat andererseits zu all den peinlichen Vereinnahmungen und Belästigungen eines vermeintlich animationsbedürftigen Publikums geführt, womit eine tatsächlich vorhandene Spannung ins Infantile umgedeutet wurde. So gesehen war die Essenz der gesamten Kunst der 60er und 70er Jahre ein einziger groß angelegter Aufruf zum Kontakt-Krabbeln. Ich würde dagegen das setzen, was Nietzsche als »Pathos der Distanz« ansagte, oder was Gottfried Benn so aussprach: »Halte Dich fern von Deinem Nächsten!« Man kann in diesem Sinn gar nicht genug Abstand nehmen! Es handelt sich hier exakt um das Gegenprojekt zu jenem von mir so vielfach abgelehnten, soziokulturell durchsetzten Konsens des spätmodernen Mainstream, und gleichzeitig handelt es sich dennoch um einen Teil der Moderne selbst, die wenigstens hier ihren Schatten nicht los wird. Vertikale, hierarchische, auf den Unterschied setzende Strukturen treffen auf horizontale und gleichmacherische Strukturen. Von diesem Punkt aus kann man wiederum auf den Ursprung solcher Kontroversen, nämlich den gefesselten Odysseus zurückkommen: Man übersieht eben, dass sich Odysseus nicht nur zum Spaß an den Mast hat binden lassen, sondern um zu überleben. Die Fesseln lassen sich nicht einfach lösen, und dann wird alles gut. Sie sind die Bedingung einer zu steigernden Wahrnehmung. Und die möglichst unüberwindliche Distanz ist die Bedingung für die Transformation der ganzen Situation. Deshalb ist der Abstand nicht nur auszuhalten, sondern auf die Spitze zu treiben.

      Somit ist es nur noch mangelnder Respekt, wenn mir ein Künstler interaktiv auf die Pelle rücken will, um mich wohltätig aus meinem Gefängnis zu befreien. Noch dazu handelt es sich dabei um eine vollständige Fehleinschätzung jedes zwangsweise ästhetischen Verhaltens: Auch die eingehende Betrachtung eines Raffael-Bildes ist interaktiv. »Kunst und Leben« ist hier nur für ideologisch Verwirrte etwas Getrenntes. Man braucht nur einmal eine Wagner-Oper zu besuchen, um festzustellen, dass das Publikum da mindestens so mitgehen kann wie ein anderes Publikum in einem Metallica-Konzert. Der einzige Unterschied ist dann nur, dass die einen sich weniger schütteln als die anderen.



RSTAls ich über die Beziehung von »Kunst und Leben« sprach, da dachte ich, angesichts vom Bauhaus z. B., an einen »Bezug (der Kunst) auf eine (kritische) gesellschaftliche Praxis«, und dies ist etwas anderes als kuschelige Interaktivität (die so kuschelig, man denke etwa an Liam Gillick, Rirkrit Tiravanija oder Santiago Sierra, ja auch nicht immer ist). Wie sähe nun angesichts Deiner Arbeit ein adäquates Sich-Einlassen aus? Du spielst ja, denke ich, bewusst auch mit quasi »verbotenen Früchten«, also mit von Dir porträtierten Personen (Martin Heidegger, Ernst Jünger), denen, mehr oder weniger zu recht, eine Nähe zum Faschismus vorgeworfen wird. Soll dieses polemische Moment den Betrachter schlicht provozieren oder steckt anderes dahinter?



MK — Natürlich übertreibe und verallgemeinere ich um der lieben Polemik willen, und wie immer darf gelten: Alle Ausnahmen bestätigen alle Regeln! Ob mir jemand im Museum eine Rückenmassage anbietet, oder ob einer ernsthaft sozialkritisch die Galerie unter Wasser setzt, das gehört doch beides in den bewährten interaktiven Unterhaltungszirkus, da sehe ich nur einen graduellen Unterschied, keinen prinzipiellen. Also: Kein Selbstbezug, kein Kuscheln, und nicht einmal eine Galerie unter Wasser! – Was denn dann eigentlich? Vielleicht beginnt mein Versuch, ins Gesellschaftliche einzugreifen, erst da, wo der ganze Kontext, in dem z.B. diese drei Möglichkeiten fast alternativlos erscheinen, in Frage zu stellen ist. Es geht darum, an einem Selbstverständnis zu rütteln, dessen Absolutismus mittlerweile in einem nicht mehr haltbaren Widerspruch zu dem Relativismus steht, den es nach innen verspricht. Der Motor dieses Selbstverständnisses ist ein subtil gleichmacherisches Mahlwerk, das nach und nach alle Differenzen der Menschen und Kulturen auflöst, bis die Welt ein einziger, überall gleich aussehender Kaugummi geworden ist. Für viele mag dieses Ende aller Mündigkeit und Evolution, der finale graue Brei unausweichlich scheinen, – Kritik muss trotzdem auch hier möglich sein, und die hat dann wohl mit dem Entwurf einer Moderne »jenseits von Karl Marx und Coca-Cola« zu tun. Was noch zu Beginn der 60er Jahre unter dem leuchtenden Logo »Pop« rebellisch wirken konnte, das hat sich immer mehr zum Beschleuniger eines identitätslosen Konsummonadentums entwickelt, und die ersehnte Diktatur des Proletariats wurde schließlich umgesetzt z.B. durch die Macher von »Deutschland sucht den Superstar«. Hier sind endlich die Maximen realisiert, die 40 Jahre zuvor noch für sozialen Sprengstoff sorgten: Jeder kann es! Jeder darf es! Niemand braucht Talent! Du musst es nur wagen! Was aber dabei herauskommt, kann ja nur noch eine Art Karaoke für Minderbemittelte sein, das 68er-Paradigma, gepaart mit maximaler Einschaltquote. Der zu befreiende Knecht, den man so lange für den Schlüssel der Weltgeschichte hielt, hat sich nach seiner Befreiung eben doch nicht als die ersehnte Mischung aus Sokrates, Jesus Christus und Jim Morrison erwiesen, sondern eher als ein gut verdienender Dieter Bohlen.
       Gegen all diese Zusammenhänge Argumente zu liefern, mit Bild, Text, Film, Rede, egal wie, ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, in der heutigen Gesellschaft wirklich kritisch aufzutreten. Was dann im Einzelfall das Provozierende ist, wird von Parteien und von Details entschieden. Die zugemauerte Galerie hingegen provoziert eigentlich niemanden und kritisiert auch nichts mehr, denn sie erfüllt schon längst Erwartungen.



RSTIch glaube ja auch, dass die Hoffnungen der 90er Jahre Kunst, Crossover etc., leider Hoffnungen geblieben sind. Dass dann z. B. wieder quasi »einfach nur Bilder« auftreten, um Alternativen anzubieten, finde ich auch verständlich. Aber, und nun mit meiner letzten Frage konkret zurück zu Deiner Arbeit, ist diese Strategie nicht bereits viel länger schon eingemeindet in den (bildungsbürgerlichen) Kunstbetrieb und somit ihrer kritischen Spitze ebenfalls beraubt?



MK — Die Frage nach dem Medium ist einfach gleichgültig, weil sie sich immer nur im Kreis bewegt. Das versuchte Crossover der 90er Jahre war ja vielleicht die letzte Etappe jenes gleichmacherischen Impulses, in dem das Rahmen-Sprengen und GrenzenÜberschreiten zur Geste erstarrt ist, denn die Rahmen rahmten schon lange nichts mehr, die Grenzen begrenzten im Multikulti- Einerlei auch nichts mehr, und die leere Negation kann dann nur noch eine Verschiebung des L‘art-pour-l‘art-Problems bringen.

Wenn man es mit dem Kritischen ernst meint, dann spielt ausschließlich Inhaltliches eine Rolle. In meinem Fall eben die Aushebelung eines öde gewordenen Paradigmas. Das kann mit Bildprogrammen beginnen, aber von mir aus auch mit einer Gewehrsalve, einer Massenhypnose oder der Heiligsprechung des Marquis de Sade durch die Katholische Kirche. Egal wie! Vielleicht geht es einfach um eine Wiedergewinnung starker europäischer Identität, um »Kulturkampf« (wenn das Wort nicht schon wieder so beschädigt wäre): Also etwas mehr Fesseln des Odysseus, und etwas weniger Dieter Bohlen. Die Städte müssen dann zu riesigen mausoleums-artigen Gebilden werden, mit Säulenhallen, zwischen denen die Flugzeuge fliegen, mit antennnenbeladenen Opferschalen, von denen Rauchsäulen bis in die Stratosphäre aufsteigen, mit olympischen Göttern zwischen den Ebenen, mit waldigen Gärten in schwindelnder Höhe, die schon im Abendlicht stehen, wenn an den Fundamenten erst der Morgen anbricht, in der Luft die Spuren eines Dionysos, der aus Asien zurückgekehrt ist, nachdem die Menschheit endlich die Geisel des jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus abgeschüttelt hat, mitsamt der ganzen heillosen Erlösermoral, – keine Deckenhöhe in keinem Haus mehr unter 10 Metern, die Eingänge getragen von Atlanten aus Granit, die Kunst antikisiert, monumental, und dennoch auf allen Skalen des Psychologischen spielend, längst überholt die wirren Ideale der Französischen Revolution (Freiheit? – Unmöglich!, Gleichheit? – Eine Katastrophe!, Brüderlichkeit? – Nicht solange noch Evolution sein soll!), weltweit wird der Englisch-Unterricht durch Altgriechisch ersetzt, statt Sozialkunde und Ethik werden Tragödien studiert, der Wissenschaft und dem technologischen Fortschritt werden keine Grenzen mehr gesetzt, W-Lan in der ganzen Milchstraße, Piranesi-hafte Durchblicke auf Triumphbögen, die in den Wolken verschwinden, hinter denen wieder neue Welten warten, die erobert werden wollen, und noch weitere Distanzen, die erdacht werden wollen, usw. – Das wäre doch Crossover! Damit ist auch ein Hinweis auf meine eigenen Fesseln gegeben: Solange ich nicht mehr Mittel zur Verfügung habe, bin ich eben gezwungen, auf kleinen Leinwänden Programme zu erstellen. Doch lieber würde ich große Bauaufträge annehmen, bei denen Millionen von Arbeitern und Maschinen Tag und Nacht zum Einsatz kämen. – Doch nichts von alledem muss eintreffen, es reicht schon, wenn sich so einige perspektivische Verlängerungen kleiner Unebenheiten zeigen, die ein wahrscheinlich belangloser Moment in einer diffusen Gegenwart enthalten mag. Was dabei »Kunst« genannt werden kann, ist nicht wichtig.


Das Gespräch fand im Dezember 2006 per E-Mail statt.