Die Bibel des modernen Zeitalters ist Homers ‚Odyssee’

-Michael Boss

Bislang galt der 1961 in München geborene, mittlerweile in Berlin lebende und arbeitende Maler Michael Kunze eher als ein Außenseiter des deutschen Kunstbetriebs. Seine tief in den geistigen Traditionen des Abendlands wurzelnden Arbeiten mit ihrem dichten intellektuellen Beziehungsgeflecht, das die griechische Antike ebenso umfasst wie so herausragende Gestalten wie Nietzsche, Heidegger, Ernst Jünger, Pasolini oder Lars von Trier wollten nicht so recht in ein Umfeld passen, das bevorzugt die poppig-bunte aber bedeutungsfreie Oberflächlichkeit zelebriert oder sich in abstrakten Formspielereien verliert. Mittlerweile scheinen sich die Verhältnisse jedoch zugunsten von Michael Kunze und seiner besonderen Weltsicht zu verschieben. Hiervon zeugen eine große Einzelausstellung, die im Frühjahr dieses Jahres in Düsseldorf zu sehen war sowie seine Teilnahme an zwei Gruppenausstellungen in Kleve und aktuell in der Neuen Nationalgalerie Berlin. Auch bei privaten Sammlern stoßen Kunzes Bildwelten, seine zerfallenen Architekturen und traumhaft anmutenden Szenarien, zunehmend auf Interesse. BLACK hat Michael Kunze zur seiner Arbeit und ihren intellektuellen Grundlagen befragt.

Michael Boss2013 scheint ein Michael-Kunze-Jahr zu sein: Im Frühjahr hatten Sie in der Kunsthalle Düsseldorf Ihrer erste Einzelausstellung in einem institionellen Haus, die Gruppenausstellung „The Present Order is the Disorder of the Future“ im Museum Kurhaus in Kleve bestreiten Sie mit der fast vollständigen Präsentation des Zyklus „Les Messieurs d’Avignon“ nahezu allein, und ab dem 06. September nehmen Sie in der Neuen Nationalgalerie Berlin an der Gruppenausstellung „BubeDameKönigAss“ teil. Außerdem werden sie seit geraumer Zeit von der renommierten Galerie Contemporary Fine Arts vertreten, die u. a. auch Jonathan Meese betreut. Wie würden Sie vor diesem Hintergrund den bisherigen Verlauf Ihrer Karriere sehen?


Michael Kunze — Als eher untypisch. Als ich Anfang der 90er Jahre von der Kunstakademie kam, verfolgte ich einen Ansatz und eine Thematik, die ziemlich exakt das Gegenteil von allem zu sein schien, was damals möglich war. Alles, was in dieser Zeit (bis in die frühen 0er Jahre hinein!) nicht auf Sozio-Kultur, 70er Jahre-Revival und einen bestimmten Neue-Medien-Mix setzte, war schlicht und einfach verboten. Eine hermetisch anmutende Gegenständlichkeit im verteufelten Medium Malerei, Anklänge an Böcklin und De Chirico, und noch dazu Nietzsche-Lektüre, - damit wurde man einfach als nicht stubenrein vom Geschehen ausgeschlossen. Erst im Lauf der letzten 10 Jahre begann sich dann der Wind zu drehen, die Szene wurde heterogener und vielfältiger, der Mainstream bröckelte. Während ich noch für viele orthodoxe Modernisten der 90er als Freak galt, tauchten auch schon vereinzelt offenere Gemüter auf, die das postminimalistische und postkonzeptuelle Einerlei mit dem ewigen Zwang zur Pop-Kompatibilität zunehmend zum Gähnen brachte, - und die mit meinem scheinbar so anachronistisch texthaltigen Projekt bereits etwas anzufangen wussten. So ergaben sich - aufgrund eines permanent fehlenden "modischen" Aspektes - verhältnismäßig spät Kontakte zu größeren Sammlern, Galerien und Ausstellungshäusern.



MBSie haben zunächst Kunstgeschichte und Literatur studiert, bevor Sie schließlich ein Kunststudium aufgenommen haben. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Schritt in die bildende Kunst zu vollziehen, und inwieweit profitieren Sie heute als Maler von Ihrem geisteswissenschaftlichen Studium?



MK — Es war mir gerade bei meiner so weltfremd scheinenden Interessenlage wichtig, ein sichtbareres und greifbareres Resultat zu erarbeiten, - und nicht nur inzestuös mit Text auf Text zu reagieren. Ich bin zwar immer noch viel mit Text beschäftigt, doch es geht eben alles durch diese Ebene hindurch, die ein dicht konstruiertes Bild zusammenhält. Dieses Bild macht den transhistorischen Ausgangs- und Schlusspunkt auch noch der vertracktesten idealistischen Fragestellung aus. Insofern sind kulturgeschichtliche und geisteswissenschaftliche Kenntnisse in meinem Fall ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Es geht mir da um Zusammenhänge, die, je weniger sie zur Illustration taugen, desto mehr die Lesbarkeit eines jeden denkbaren Bildes ausmachen, egal ob es sich um Altdorfers Alexanderschlacht handelt oder Ad Reinhardts monochromschwarze Bildtafeln.



MBIn ihrem Zyklus „Les Messieurs d’Avignon“ versammeln Sie einen illustren Männerbund von Denkern und Dichtern, von Filmemachern und bildenden Künstlern. Dazu zählen u.a. Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Martin Heidegger, Pier Paolo Pasolini oder Albert Camus. Kann man diesen Zyklus als malerische Manifestation Ihrer eigenen intellektuellen Biographie sehen, und worin besteht für Sie das verbindende Element zwischen diesen ideologisch doch höchst unterschiedlichen Charakteren?



MK— Mit dieser Bildgruppe versuchte ich, eine Art Genealogie einer "Schattenlinie" der Moderne herzustellen, die der offiziellen Darstellung der Epoche in vielen wesentlichen Punkten widerspricht. Von Böcklin ausgehend (im Gegensatz zu Cézanne), dann über De Chirico, die frühen Surrealisten, Balthus, Bacon, aber auch am Beispiel wichtiger Vertreter des europäischen Films der Nachkriegszeit wie Bunuel, Pasolini, Antonioni, Bergman, Tarkowski bis heute Lars von Trier, lässt sich ein eher düsterer, labyrinthischer, geschichtsverwobener und speziell eurokontinental (statt angelsächsisch) geprägter Bild- und Textzusammenhang verfolgen, der keine naive Fortschrittsgläubigkeit, keine schlüssigen Lösungen, keine politische Korrektheit und keinen populären Pragmatismus kennt. "E" scheint hier über "U" zu dominieren, nicht das Einfache, sondern das Komplizierte und verwirrend Anspielungsreiche wird hier zum Merkmal. Auf Schritt und Tritt verdoppeln sich die Böden. Natürlich gehören in diese von Einzelgängern statt von "Richtungen" geprägte Linie auch Denker und Literaten wie Nietzsche, Heidegger, Arno Schmidt, Camus oder auch jüngst Houellebecq. Was hier an Bild und Wort zu entdecken ist, scheint mir alles - trotz vieler offener Anachronismen und Sperrigkeiten - sehr viel zeitgemäßer für uns Heutige zu sein, als das, was sich auf der "offiziellen" Linie seit Cézanne ergab: Von hier aus ging es ja über den Kubismus, den folgenden bekannten Avantgardereigen bis in die 70er Jahre mit Concept und Minimal Art fortschrittsbewusst und scheinbar geradlinig in die Zukunft. Doch die Ungereimtheiten und historischen Fehlinterpretationen dieses amtlichen Moderneverständnisses werden nun seit Jahrzehnten immer auffälliger und nerviger. Korrekturen sind hier überfällig, Gegenvorschläge zur geläufigen Sichtweise erst recht. Und der Hinweis, wie dieser ganze Themenkomplex schon in der Unterscheidung von Toteninsel und Mt. St. Victoire verschlungen ist, kann für die Blickrichtung querfeldein nur eine Bereicherung sein.



MBIn Ihrem Zyklus „Was ist Metaphysik?“ setzen Sie sich mit Martin Heidegger auseinander: der Titel bezieht sich auf Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung, ihre Gemälde greifen Fotografien auf, die während des mittlerweile legendären SPIEGEL-Gesprächs im Jahr 1966 entstanden sind. Auch haben Sie den Philosophen innerhalb des Avignon-Zyklus‘ porträtiert. Welche Rolle spielt das Denken Heideggers für Ihre Arbeit und ihre Weltsicht?



MK— Zunächst ist Heidegger natürlich eine zentrale Figur innerhalb der zuvor genannten "Schattenlinie". Die Art und Weise, wie sich hier Kulturkritik mit Metaphysik, aber auch Postmetaphysik mit existenziellem Lebensanspruch verbindet, ist für seine Zeit und für kommende Zeiten die Antriebsquelle eines fortdauernden hermeneutischen Salto Mortales, ganz in dem doppelbödigen Sinn, der gerade dem abseitigen oder abgründigen Weg seine belebende Kraft verleiht. Die Bibliotheksszene des SPIEGEL-Gesprächs lässt auf zwielichtige Weise gerade diesen mäandernden Ideenzusammenhang sichtbar und spürbar werden, ohne dass gewünschte Worte fallen: Das Aneinander-Vorbeigehen zweier Generationen macht das historische Interview zur Gespensterrunde und bestimmt hiermit exakt den Brennpunkt und Rauchfang eines von ideologischen Verwerfungen gezeichneten Jahrhunderts der existenziellen Revolte. Natürlich sind diese Verwerfungen auch ein wesentlicher Bestandteil des von mir thematisierten Querfeldein-Weges.



MBEinen wesentlichen Teil Ihres Schaffens stellen Fotografien dar, die während Ihrer Aufenthalte in Griechenland entstehen, vornehmlich von aufgegebenen und verlassenen Orten, über die die Zivilisation hinweggegangen ist. Was bedeutet Griechenland mit all seiner klassischen Tradition für Sie?



MK— Hier sei erst einmal ein kleiner Exkurs erlaubt: Das antik-polytheistische Griechenland, in dem von A bis Z alles erfunden und geschaffen wurde, was unsere so genannte "westliche" Kultur ausmacht (und was heute im Zuge der Globalisierung noch bis in den letzten Winkel des Planeten kopiert wird) bildet einen dezidierten Bezugspunkt beinahe all der von mir genannten Protagonisten einer labyrinthischen Gegenmoderne. - Betrachten wir einen hierzu gehörigen religionskritischen Aspekt: Ob bei Nietzsche, Camus, oder Pasolini, überall scheint die phantastische Weltlichkeit und schicksalshafte Kompaktheit der antiken, mythisch fundierten Kultur ein überlegenes Gegenmodell zu den intolerant-zwanghaften, welt- und bildverneinenden Vorstellungen der monotheistischen Religionen zu bilden. Die gesamte neuzeitliche Rückbeziehung auf die griechisch-antike Welt ist von einem mehr oder weniger deutlichen neopaganen Unterton getragen, - am weitreichendsten wirkte diese Unterströmung in Deutschland seit der Goethezeit: Hölderlin, Nietzsche, Dritter Humanismus. Auch ich sehe in dem rituell bindenden und bildbezogenen Mythen-Weltbild der Antike ein ungleich offeneres System, das einer pluralistischen Moderne weitaus angemessener ist als der zur Ideologie und Psychopathologie neigende Weg der Erlösungsreligionen. Die Bibel des modernen Zeitalters ist Homers Odyssee. - So ist es auch kein Wunder, dass die Grundlagen dessen, was wir bis heute unter dem Begriff "Kunst" verstehen, der weltlich UND metaphysisch gesinnten Antike entstammt, - insbesondere natürlich jener agonal strukturierte Mimesis-Begriff, der eine beispiellose Sondergeschichte des Bildes in Europa ermöglicht hat. Das Phänomen "Kunst" ist so - unter gesellschaftlichem Gesichtspunkt - nichts anderes als ein Produkt aus heidnischer Weltzuwendung und Feudalismus. Und selbst die Versuche, in postfeudalistischen und proletarischen Zeiten gegen diese Verwurzelung zu rebellieren, partizipieren gewollt oder ungewollt auf parasitäre Weise an der wertsteigernden Wirkung dieses auf Prachtentfaltung und Simulation ausgerichteten Weltzugriffs. Kurz: Dass man über den Flaschentrockner Duchamps überhaupt reden kann, ist immer noch der Meisterschaft eines Peter Paul Rubens zu verdanken. Das soll keine ketzerische Kritik am Readymade sein, aber es sei als ein Hinweis erlaubt, der den historischen Zusammenhang etwas anders beleuchtet. Kunst ist nichts für Protestanten.

Zu den Fotografien: Seit vielen Jahren versuche ich hiermit den Status Quo einer Örtlichkeit zu dokumentieren, die in der vergessenen Ursprungszone einer bis heute entscheidend und dominant nachwirkenden Leitkultur - im Jahr 2013 traurige Realität - immer noch Spuren eines Geistes spürbar sein lässt, über dessen historisch einschneidende und schicksalsstiftende Macht sich bis heute streiten lässt: Erinnerung und surreale Gegenwart durchkreuzen sich im scharfen Licht des Nordwinds an ägäischen Küsten.



MBViele Ihrer Gemälde zeigen verlassene Areale, vom Menschen aufgegebene Bauten, die sich selbst überlassen sind. Mich erinnert dies vielfach an die sogenannte „Zone“ aus dem Film „Stalker“ von Andreij Tarkowskij (eine Szene aus dem Film haben Sie ja auch als Grundlage für eines Ihrer Tarkowskij-Porträts gewählt). Kann man diesen Gedanken der „Zone“ als einem Ort, an dem sich Vergangenes und Vielleicht-Zukünftiges verdichten, als ein Leitmotiv Ihrer Arbeit betrachten, und was macht für Sie die Faszination solcher Szenerien aus?



MK — Die gegenseitige Durchdringung möglicher und unmöglicher Lesbarkeit, die sich in derartigen "Zonen" ereignet, bringt - so hoffe ich - den transitorischen Text zum Vorschein, den ich für einen Gegenentwurf zur gegenwärtigen Lage zu entziffern versuche. Fiktion und Realität kann hier nirgends klar unterschieden werden. Schon Böcklins "Toteninsel" war eine solche Zone, die metaphysischen Räume eines De Chirico, Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik", Edgar Allan Poes "Tsalal" aus dem "Arthur Gordon Pym", aber auch die afrikanischen Wüstenlandschaften aus Pasolinis Tragödien-Verfilmungen, und natürlich auch die Zone des "Stalker". Es handelt sich um Orte des Übergangs, um neutrale Gebiete, die aus dem System einerseits herausgefallen sind, andererseits aber in konzentrierter Form all den Stoff enthalten, der jenseits des Niemandslandes zu den Grenzziehungen und Verwicklungen geführt hat, die jetzt nicht mehr sind als surreale Bruchstücke eines BEINAHE realisierten Traumes. Martialisches und Filigranes vermischt sich hier auf absurde Weise. Die Entkontextualisierung, die an solchen Orten stattfindet, zeigt uns in verschlungener Schrift nicht nur unsere bisherige Geschichte, sondern auch in einem Augenblick alle weiteren Möglichkeiten ihrer zukünftigen Entwicklung, - ein Fächer im Wind. Wir sind gezwungen, unser letztes Spielzeug loszulassen. Wir lesen und blinzeln, halb wachend, halb schlafend. Eine absolute, maximal kontinuierliche und zugleich vollkommen zusammenhangslose Welt erwartet uns, bis uns doch wieder eine Unregelmäßigkeit des Geländes aus dem Tritt bringt und der ganze Lauf wieder von vorne beginnt.



MBIn einem Gespräch mit Raimar Stange plädieren Sie für die „Wiedergewinnung starker europäischer Identität“. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang für Sie die Idee Europa, und haben Sie sich jemals mit der musikalischen Subkultur des Neofolk beschäftigt, wie er in seiner Blütezeit von Bands wie SOL INVICTUS, DEATH IN JUNE oder FIRE & ICE vertreten wurde und u.a. getragen war von einer Vision Europas jenseits der EU, mit starken neopaganen Implikationen?



MK — Seit Jahrzehnten herrscht im Mainstream-Diskurs ein seltsam unhinterfragbarer Konsens darüber, dass eine möglichst lückenlose Nivellierung kultureller Identitäten historisch notwendig sei, und dass der Gipfel aller Liberalität und Gleichberechtigung dann erreicht sei, wenn für alles und jeden ein kleinster gemeinsamer Nenner gefunden ist. Die unweigerliche Proletarisierung aller kulturellen Bereiche, die mit diesen Tendenzen einhergeht, hatte vor 50 Jahren zwar noch einen gewissen subversiven Charme, ist aber inzwischen zur Bedrohung jeglicher avancierteren und prononcierteren sprachlichen und bildnerischen Äußerung geworden, die über einen simplen und kurzzeitig berechenbaren Informationsaustausch hinaus will. Die bis zur Erschöpfung betriebene Anbiederung ans Populäre und Triviale sollte einerseits als Lockerungsübung angesichts eines gefürchteten höheren Maßstabs verstanden sein ("jeder" soll es können, wie zu guter Letzt bei "Deutschland sucht den Superstar"), andererseits sollte hiermit eine irgendwie von "unten" weise gewordene, gleichsam urdemokratische Stimme der Allgemeinheit gewonnen werden, die endlich die soziale Utopie zu verwirklichen hilft. Leider ist es aber ganz anders gekommen: Aus der medialen Gleichschaltung hat sich nicht eine neue Intelligenz "von unten" ergeben, sondern die Welt der Chartshows, des Evergreen-Karaokes und der 100 Milliarden Urlaubsfotos im Netz ist entstanden. Nur hier ist der kleinste gemeinsame Nenner, - an keinem klügeren Ort.

Angesichts dieser Entwicklung ist es mehr als dringend, von einem neu gewonnen kritischen Punkt aus unpopulistisch auf das "E" einer kulturellen Äußerung zu setzen und dem scheinbar unwiderstehlichen Zwang zum "U" etwas entgegenzusetzen ( zu Adornos Zeiten hieß das noch "Kulturindustrie", und da ging es noch um Jazz gegen Zwölftonmusik). Distanz zum Betrachter muss her, nicht Nähe! Und natürlich stellt sich hier für einen Europäer die Aufgabe - zumal auf diesem kleinen Kontinent eben alles entstand, was ein hochkulturelles Format im "E"-Modus erfüllte - an der Wiedergewinnung einer europäischen kulturellen Identität zu arbeiten, selbstverständlich auch unter Einschluss ihrer kritischen Werte. Nachdem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur das gesamte humanistische Bildungssystem ausgerottet wurde, sondern auch jedes Gefühl für den absoluten Sonderstatus dieser europäischen Kultur niedergekämpft wurde, muss der Dekonstruktion auf neuer Ebene ein neues Bewusstsein folgen. Deshalb muss man es leider sagen dürfen: Von der Griechischen Tragödie bis Mozart, von Platon bis Kant und vom Parthenon bis Caravaggio ist auf diesem Planeten nichts Vergleichbares entstanden. Vom Feld der Wissenschaft und der technologischen Entwicklung ganz zu schweigen. "Anderes" ist natürlich immer und überall geschaffen worden (und niemand sträubt sich gegen "Anderes"!), doch die Rangunterschiede bleiben erhalten, da hilft kein Redeverbot. Hier sehe ich - übrigens auch zum Gewinn einer außereuropäischen Welt, die viel faszinierter von dieser Sondergeschichte ist als wir selbst! - die heutige Aufgabe für eine Stimme aus Europa. Mag sein, dass eine solche Stimme zur Donquichotterie verdammt ist, doch manchmal ist eben auch ein Don Quichote eine notwendige Figur.

Die von Ihnen genannte Musik kenne ich leider nicht. Doch was den starken neopaganen Hintergrund der von mir zuvor beschriebenen "Schattenlinie" der Moderne angeht, so habe ich hierzu in den obigen Antworten bereits meine Affinität ausgesprochen. Ein kritischer Gegenentwurf zu manchen Tendenzen der letzten Jahrzehnte ist unter Einbeziehung dieses Gesichtspunktes möglich.



MBWie bedeutend ist das architektonische Moment für Ihre Arbeit? Insbesondere auf jüngeren Gemälden finden sich ja Bauten, die stark an Entwürfe von Albert Speer für das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg erinnern.



MK— Die Anklänge an totalitäre Architektur, die sich hier mit futuristischen, dekonstruktivistischen und surrealen Elementen verbinden, versuchen wiederum eine blinde Stelle zu treffen, die sich das Zeitalter der Moderne in den letzten 50 Jahren von sich selbst entworfen hat. Der Totalitarismus und der dahinter stehende Ideenabsolutismus ist von der französischen Revolutionsarchitektur bis zur Architektur der Sowjetunion, des Dritten Reiches und zuletzt noch Nordkoreas ein wesentlicher Bestandteil dieser Epoche, und nicht irgendein tragikomischer Dauerausrutscher. Wer das nicht wahrhaben will, der macht sich eben ein falsches Bild. Natürlich wird es mit der hier fälligen Korrektur komplizierter, unbequemer, politisch und ästhetisch zwiespältiger, - dafür wird es aber auch interessanter und der Komplexität der Sache angemessener.



MBNeben Malerei und Fotografie ist das Schreiben die dritte wesentliche Säule Ihrer Arbeit. Damit stehen Sie in der Tradition anderer schreibender Maler wie Salvador Dali oder Giorgio di Chirico. In welcher Beziehung stehen die Texte zu ihren Bildern, und haben Sie Pläne für eine reine literarische Veröffentlichung?



MK— Die Beschäftigung mit Text und auch die Erarbeitung eigener Texte läuft zur bildnerischen Arbeit parallel. Das heißt: Es werden keine Bilder erklärt. Es gibt keine diskursive Ebene. Das Bild in seiner "abendländischen" Prägung (und inzwischen ist dieses Bild durch die Verbreitung der Neuen Medien weltweit das einzig wirksame und gültige Bild) beruht auf Lesbarkeit, auch wenn es sich mit der ideologischen Verdammung des "Narrativen" oder "Anekdotischen" (z.B. bei C. Greenberg) dagegen sperren will. Wo diese Lesbarkeit auf Unlesbarkeit trifft, kann Text entstehen. Er macht dann da weiter, wo Sichtbares nicht mehr entzifferbar ist, und Oberflächen hermetisch erscheinen. Ich versuche diese Momente mit idealistischen Fragestellungen in Verbindung zu bringen, die mich entgegen allen antimetaphysischen Einstellungen der Spätmoderne auf ein metaphysisches Feld führen, das hinter jeder nicht-informativen Lücke einer alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen Übereinkunft lauert. Ein Universum der Anti-Information tut sich hier auf, und wir stecken mit all unseren Datenbergen mitten in ihm.

Ein ca. 300-seitiger Text, der sich von verschiedenen Punkten aus diesem anti-informativen Kosmos zu nähern versucht, ist seit über 10 Jahren in Arbeit und wird nächstes Jahr abgeschlossen und veröffentlicht.



MBManche Gemälde erinnern atmosphärisch an Bilder von Giorgio de Chirico oder die Traumtableaus eines Paul Delvaux. Könnte man Sie als eine Art apokalyptischen Postsurrealisten bezeichnen?



MK— Es gibt da viele, z.T. recht widersprüchliche Bezüge, die mal direkter und mal indirekter sichtbar sein können. Und überall da, wo ich historische Zitate verwende, geht es um Szenerien oder Örtlichkeiten, die selbst wieder als ein Zerr- und Brennspiegel widersprüchlicher Aspekte eines eher untergründigen Bild-und Textzusammenhangs wirksam sind (Pierre Klossowskis Zeichnungen etwa, die Villa Malaparte auf Capri, Pasolinis Antikeninszenierung, Lars von Triers psycho-romantische Exzesse, etc.), so dass man hier eine Vielfalt von Quellen finden kann und muss. Insgesamt ist aber zu sagen, dass die Zeit der Ismen (auch mit der Vorsilbe "Post-") vorbei ist, weil wir alle gleichermaßen heute in einer posthistoiren Welt klarkommen müssen, in der der klassisch-moderne Mythos einer radikalen Neuschöpfung nicht mehr funktioniert. Die große Gleichzeitigkeit aller menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten von der Höhlenmalerei bis zum Digitalfoto ist uns zum unweigerlichen Horizont geworden. Das erlaubt uns einerseits wieder, unbefangen und normativ die Frage nach den Rang- und Qualitätsunterschieden zu stellen (was zu Zeiten des dogmatischen Relativismus noch verboten war), - andererseits dürfen wir in dieser Situation ohne Scheuklappen hinter urtümlich als "modern" bezeichnete Positionen zurückgehen, um die Verwurzelung von Redeweisen zu untersuchen, die sich zwar "modern" geben, dies aber - gerade nach Prüfung der eigenen Richtlinien - gar nicht sind. Man muss heutzutage mehr als nur "zeitgenössisch" sein. Und was das alte, analoge Medium Malerei betrifft: Es entfaltet erst dann seine Kraft, wenn man den Anachronismus, der in diesem Medium mit seinen 3000 Jahren Geschichte liegt, extra auf die Spitze treibt. Es gibt überhaupt keine "zeitgenössische" Malerei. An so etwas hatte man noch in der Ära von Kandinsky bis Polke geglaubt, doch diese Ära ist eben vorbei. Malerei heute ist ein Raumschiff aus einer fernen, völlig irrelevant scheinenden Welt, und gerade deshalb ein mögliches Korrektiv zu aktuellen Gepflogenheiten des Sehens und Sprechens.



MBGemeinsam mit Martin Eder, Anselm Reyle und Thomas Scheibitz bestreiten Sie ab dem 06. September die Ausstellung „BubeDameKönigAss“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Welche Idee steckt hinter diesem Projekt und wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ihren drei Malerkollegen?



MK— Das Ausstellungskonzept will zwei Positionen einer wild gewordenen Narration gegen zwei Positionen eines wild gewordenen Formalismus stellen. Dabei wird die Gegenüberstellung nochmals durchkreuzt, indem zwei Positionen (Eder und Reyle) auf eine primäre Ebene der Verführung setzen, während die anderen beiden (Scheibitz und meine Wenigkeit) eher auf eine zusätzliche Ebene hinter dieser Oberfläche setzen, die deshalb beim ersten Ansehen spröder wirkt. Geht man aber noch mal näher ran an das Ganze, dann werden eigentlich bei allen vier Teilnehmern die Oberflächen fragwürdig, bei jedem auf eigene Weise, - und damit entfernen sich die Positionen dann wieder voneinander. Mit diesem Vor und Zurück, Auseinander und Ineinander wendet sich die Ausstellung an den Betrachter. Er soll gezwungen sein, einzelne Bilder zu prüfen und zu vergleichen, ohne sich von einem erweiterten installativen Malereibegriff einlullen zu lassen. Jede solche Gruppierung muss natürlich Widerspruch erzeugen, weil es auch andere Gruppierungsmöglichkeiten gäbe, die dann wieder anderen nicht passen, usw. Es muss streitbar sein, damit es nicht langweilig wird.



MBVielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen und alles Gute für Sie und Ihre Arbeit!