Auf der anderen Seite des Spiegels

—Stephan Berg

Die Bilder von Michael Kunze sehen so aus, als könnte, als müßte man sie verstehen, wenn man sie lange genug anschaut. Das hat zunächst damit zu tun, daß sie auf eine Weise gemalt sind, die uns eine direkte Wiederbegegnung mit der großen mimetischen Tradition des Mediums zu ermöglichen scheint. Die übergroßen Formate, in denen sich Kunze malerisch bewegt, die altmeisterlich anmutende Anlage der Bilder und ihr Motivrepertoire schlagen augenscheinlich einen Bogen zurück in die vergangenen Zeiten groß angelegter Weltpanoramen und Historienbilder, der im Kontext heutiger Malerei und ihrer mal skrupulösen, mal betont forschen Selbstreflexionen seltsam irritierend wirkt. Überraschend ist zunächst das große Vertrauen, das diese Malerei in die Macht der Allegorie und Metapher zu haben scheint. Nichts, was wir auf diesen Bildern sehen, begnügt sich mit einer Form der Darstellung, die auf die pure Kraft des Faktischen hinauswill. Was wir sehen, das ganze Inventar an aufgepumpt wirkenden puppenhaften Gestalten, an Landschafts– und Architekturelementen, dieser verwirrende Mikrokosmos aus Sonnenschirmen, Vögeln, Stühlen, Gitarren, Wimpeln, Wasser und Wolken, entwirft sich als ein vollständig zeichenhaftes Panorama. Sinn scheint alles das, was vor unseren Augen liegt, nicht als das zu machen, was es scheinbar gegenständlich ist, sondern allein als das, was es bedeuten könnte. Die Welt ist gerade nicht das, was der Fall ist, sondern das, was hinter ihrer tatsächlichen Gegebenheit liegt. Jedes Ding kommt erst zu sich, indem es auf etwas anderes verweist, etwas anderes hinter sich weiß.

Die Vorstellung, die Welt so malen zu können, daß jedes einzelne Element als das, was es ist, erkennbar ist und sich gleichzeitig in einen Gesamtsinn einordnet, der sozusagen hinter der Welt der Erscheinungen liegt, geht zurück auf das 15. Jahrhundert und beherrscht den Diskurs der Malerei im Grunde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dahinter verbirgt sich eine Konstruktion, die Bild und Welt widersprüchlich, aber unauflösbar miteinander verklammert. Das Bild gewinnt seine Kraft, indem es der Realität folgt und sich gleichzeitig von ihr distanziert. Mimetisches Vorgehen erfüllt sich nicht in der puren Nachahmung des Wirklichen, sondern in seiner Subversion. Dieses Bildprogramm diente einem doppelten Ziel: Der Emanzipierung des künstlerischen Vorgehens zur individuellen, selbstverfügten Setzung, und gleichzeitig der Erhöhung der banalen Faktizität des gegebenen Wirklichen zum umfassend geordneten Sinnhorizont. In der malerischen Schöpfung beweist sich der Aufstieg des Individuums aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ebenso, wie seine Rückversicherung auf einen überindividuell geregelten Weltlauf, auf dessen göttlich verfügte Logik sich das Ich verlassen kann.

Der gewaltige Malzyklus, an dem Michael Kunze nunmehr seit Ende der 80er Jahre arbeitet, weist vordergründig gesehen alle Züge des hier skizzierten Dualismus auf, in dem das künstlerische Ich einerseits gottähnlicher Kreator einer eigenen Welt ist, und dabei doch alles, was er tut und zeigt, immer aus der Fundamentierung auf den gegebenen Gesamtsinn unserer Welt bezieht. Dafür spricht zunächst einmal schon die Einteilung des Malvorhabens in das Zeitraster eines Tages: Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag und Abend sind die Stationen, die Kunze zur Gliederung und Bezeichnung seiner Malschritte benutzt. Umgekehrt proportional zur Überschaubarkeit und relativen Kürze eines Tageslaufes steht dabei die labyrinthische Fülle des Gezeigten und die epische Breite, die jedem Schritt eingeräumt wird. Nachdem ein gewaltiger Morgen ein nahezu ornamentales Panorama mit 24 Figuren, und damit dem Äquivalent zur Zahl der Stunden eines Tages entfaltet hatte, schloß sich ein Vormittag an, der die Errungenschaften der Zentralperspektive in den aus drei Einzeltafeln gefügten Bildplan einbaute. Mit dem Erreichen des Mittags, der aus acht Tafeln mit jeweils drei Personen besteht, so daß sich die Gesamtzahl der Personen wiederum auf 24 beläuft, und die acht Tafeln zusammen dem Gesamtformat des Morgens entsprechen, hat Kunze nun die Hälfte seines sich selbst auferlegten programmatischen Weges hinter sich (der zusätzlich zur Malerei auch Foto– und Objektarbeiten einschließt).

Kunzes Tageswerk scheint auf den ersten Blick in seiner kontrolliert wuchernden Anlage eine nur schlecht getarnte Metapher für den malerischen Entwurf einer ganzen Kosmologie zu sein. Haben wir es hier also wieder mit einem der vielen utopisch–vergeblichen Versuche zu tun, einem zersplitternden Weltgefüge die Erfindung eines geschlossenen Universums im Medium des Bildes gegenüberzustellen? Eine genauere Betrachtung der letzten zwei großen Bildwerke Kunzes, dem siebten und dem achten Mittag, soll helfen, dieser Frage etwas genauer auf die Spur zu kommen. Der siebte Mittag zeigt, wie nahezu alle Arbeiten des Künstlers, eine Szene, die von einer Architektur beherrscht wird, in der sich bühnenhafte Theatralik mit rätselhaft bleibender Funktionalität verknüpft. Ein überdimensionales Siegerpodest trägt auf Platz 1 eine Dampfwalze, auf einem wehrhaft wirkenden, mit einem Dachgeländer versehenen Bau wachsen immergrüne, zum Teil zypressenartige Gewächse, und eine auf quaderförmige Säulen aufgesockelte Terrasse erscheint als mit Rettungsringen bewehrte Einstiegsplattform in einen Swimmingpool, der sich allerdings ein ganzes Stück entfernt befindet. Auf dem achten Mittag taucht das Motiv des Swimmingpools wieder auf, der sich, diesmal ohne Wasser, mitten in einer ruinenhaft wirkenden felsigen Szene unter schnellziehenden weiß–schwarzen Wolken befindet. Neben dem Pool beherrscht (als bodenlose hochgeklappte Spiegelung des Schwimmbeckens) ein gewaltiger gekachelter Rahmen das Bild, auf dessen unterer Leiste ein Stuhl mit daran gelehnter Gitarre steht. Das Vertrackte an den Architekturen beider Bilder ist die Unmöglichkeit, sie lesen zu können, obwohl ihre metaphorisch wirkende Anlage doch gerade dies herauszufordern scheint. Ihre funktionale Uneindeutigkeit korrespondiert mit ihrer typologischen und ihrer metaphorischen Unschärfe. In ihrer Erscheinung verblenden sich zum Einen antikisierende Muster mit Anspielungshorizonten auf die Bauhaus–Moderne und zum Anderen Paraphrasen von pittura metafisica–Architekturen mit anonymem Bau–Pragmatismus zu einer Textur, die in sich selbst radikal widersprüchlich ist.

Eben diese strukturelle Uneindeutigkeit kennzeichnet auch das „Geschehen“, das sich innerhalb dieser Architektur–Rahmung abspielt. Einerseits gibt es nichts auf diesen Bildern, das nicht den Regeln einer Doppeldeutigkeit zwischen dem Gezeigten und dem Gemeintem folgt, andererseits stellt sich schon das Gezeigte so dar, daß es weder als das erscheint, was es faktisch objektiv ist, noch als das, was es metaphorisch sein könnte. Jeder Gegenstand, jeder Akteur auf diesen Bildern ist immer schon die Allegorie der Allegorie. Die Gitarre auf dem Stuhl kennt keine Vorbild–Existenz als faktisches Realobjekt Gitarre, aber eben auch keine als einfache Metapher, zum Beispiel für einen musisch–femininen Anspielungshorizont. So wie sie sich dort in ihrem gigantischen Rahmen zeigt, ist sie das Destillat aus hunderten von kunstgeschichtlichen Metaphorisierungen, die sie durchlaufen hat, um nun am Ende in all ihrer semantischen Fülle ausgestellt zu werden, als das, was von ihr bleibt: ein textuell nicht mehr anschreibbares Amalgam aus traditionsgesättigtem Bedeutungsüberschuß und völliger Entleerung. Die Sockel und Rahmen, auf und in denen alles steht, was auf Kunzes Bildern zu sehen ist, verdeutlichen eben dies: Daß es nichts zu malen gibt, was nicht bereits diese Phase der Uneigentlichwerdung durchlaufen hat, an dessen Ende es sich als etwas zeigt, das weder mit sich selbst, noch mit irgendeinem seiner möglichen Bedeutungskontexte identisch ist. Diese paradoxe Konstellation verdeutlicht Kunze über die Methode einer Duplizierung, die Züge einer Spiegelung aufweist. Sowohl im siebten, wie auch im achten Mittag existieren nahezu alle Bildelemente im Modus ihrer Doppelung: Das beginnt auf dem siebten Mittag bei den zwei „Verehrern“, die dem über ihnen balancierenden Mädchen das Sprungtuch halten (ein durchaus ironischer Hinweis auf Duchamps „Großes Glas“), geht weiter zu dem Schachbrettboden, der sich auf einer kleinen umzäunten Fläche vor dem Pool wiederholt, führt über den Baldachin, der die Dampfwalze überdacht und eine Etage tiefer wieder aufgegriffen wird, bis hin zu den je vier großen Tafeln, die die Zahlen von 0 bis 2 ganz und die Drei angeschnitten zeigen, –und den zwei Basketballkörben in den sich diagonal gegenüberliegenden Bildwinkeln.

Auf dem achten Mittag ist aus dem Motiv der Doppelung eine vielfache Spiegelung geworden, faßbar vor allem in der mindestens fünffach auftauchenden Rahmenstruktur und der halbrunden Öffnung zum Meer, die sich in den ausgebreiteten Armen der zwei im Swimmingpool befindlichen Männer und der hölzernen Hängebrücke im Vordergrund des Bildes wiederholt. In diesen komplexen Formen der Wiederholung verzahnen sich die Bildelemente zu einem hermetischen solipsistischen Reigen, der um einen abwesenden Mittelpunkt kreist, weil die Spiegelfläche, an der sich das Geschehen verdoppelt und multipliziert, selbst unsichtbar, beziehungsweise leer bleibt. Diese strukturelle Leere, dieses Loch im Zentrum der Bildfläche verhindert auch, daß das Bild als Gesamtsumme seiner Teile lesbar wird. Stattdessen zeigt es sich als Fragment einer Totalität, die es über die eigene Wiederholung und Vervielfachung seiner Motivmonaden konstruiert. Mehr oder minder wird es so vergleichbar mit den romantischen Projekten des 19. Jahrhunderts, bei denen Burgen gleich als Ruinen gebaut wurden, womit man nicht zuletzt klarmachte, daß Vollständigkeit und Geschlossenheit immer nur eine andere Aggregatsform des Defizitären darstellen.

Die bezwingende und gleichzeitig verwirrende Wirkung, die von diesen Bildpanoramen ausgeht, hat wesentlich mit der präzisen formalen Anlage und Struktur zu tun, mit denen Kunze seine Arbeit fundamentiert. Der kontigenten narrativen Struktur steht eine höchst festgefügte Bildgrammatik gegenüber, in die der Künstler seine Bilder einspannt. Der siebte Mittag ist von einem horizontalen, vertikalen und diagonalen Gerüst durchzogen, an dem alle Bildelemente unbarmherzig aufgehängt werden, und der achte Mittag ist in ein mathematisch ausgeklügeltes, diagonal sich kreuzendes Gittersystem unterteilt, das selbst noch die Himmelswolken in ein vom Himmelsblau unterlegtes dreidimensionales Schachbrettmuster verwandelt. Dazu kommt, daß Kunze, wie eingangs ausgeführt, nicht nur für alle Arbeiten Leinwandtafeln derselben Größe benutzt, auch wenn diese bisweilen zu größeren Bildeinheiten zusammengesetzt werden können, sondern auch bei jedem Tagesabschnitt immer von der gleichen Anzahl von Bildfiguren ausgeht.

Alles, was diese Malerei anfaßt , gerät ihr zu einem Zusammenhang aus größtmöglicher, penibler Genauigkeit und opaker Unsagbarkeit. Nirgendwo in diesen Bildern gibt es auch nur eine winzige Stelle, die nicht determiniert wäre, eingewoben in das labyrinthische Geflecht sich immer weiter verzweigender Bezüge, Grundlagen und Anspielungen. Aber gerade aus dieser totalen Durcharbeitung der Mal–Gegenstände erwächst ihre schlußendliche Verschlossenheit, die paradoxerweise die Bedingung für ihre Souveränität ist. Unter der gezielten Überimprägnierung mit semantischem Überschuß neutralisieren sich die Bedeutungsebenen und entlassen das Gemalte in die Freiheit eines Zustandes, der genau zwischen Eindeutigkeit und Sinn–Verweigerung liegt.

Diese prekäre Balance erreicht Kunze genau dadurch, daß er den malerischen Akt, der oberflächlich betrachtet so deutlich klassischen, altmeisterlichen Vorgaben folgt, im methodischen Vollzug von jeder genialischen peinture–Anmutung befreit. Statt aus dem breiten Strich malerischer Autonomie entsteht das Bild aus einer Fülle dicht gefügter Malhandlungen, in denen jede Pinselbewegung mit einer bestimmten semantischen Bedeutung verknüpft wird. So erscheint das Bild schließlich als Text, freilich als einer, dessen Ziel nicht Lesbarkeit, sondern eine Mischung aus nicht–dechiffrierbarer Multivalenz und Verschließung ist.

Die Skeptik, die sich hier gegenüber der Möglichkeit bruchloser Les– und Übersetzbarkeit ausdrückt, verweist auf das tiefere Ziel des Kunze`schen Projekts, dem es um nichts weniger als um eine Revision des linearen, fortschrittsgläubigen Anspruchs der Moderne geht. Gegen das Postulat kristalliner Klarheit und völliger Aufklärbarkeit, setzt er einen labyrinthischen Text, der seine eigene versponnene Logik proliferierend fortschreibt, ein endloses Textband, das „alles anspricht und von nichts handelt“ (Kunze). Das ist alles andere als eine einfache Verweigerung gegenüber dem Avantgardetheorem des 20. Jahrhunderts. Es ist vielmehr der Versuch, aus der geschichtlichen Entwicklung des Mediums und seinen Leistungen, hinter die sich nicht zurückgehen läßt, andere Schlüsse zu ziehen, als es das Moderne–Diktat zugelassen hatte. Insofern stehen bei Kunze nicht Autonomie, radikale Nullpunkt–Reinigung, und Dekonstruktion des Werks als Werk im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern das Bemühen zu zeigen, daß dem gerne als anachronistisch gescholtenen Medium ohne weiteres eine Komplexität eignet, die es als kompatibel mit den heutigen Anforderungen ausweist.

Formal wie inhaltlich ist jedes der elaborierten Malstücke Kunzes ein hochartifizieller visueller Diskurs über die in der Moderne verdrängten Möglichkeiten der Malerei. Die mögliche Macht des Mediums ergibt sich bei ihm gerade aus der Erinnerung und Neubelebung scheinbar anti–moderner Praktiken, wie beispielsweise einer surrealen Maltradition. Deren Strategien der metaphorischen Überinstrumentierung und kalkulierten Verunreinigung erweisen sich als ein heterogenes Mittel, das Kunze systematisch weitertreibt. Die Gleichzeitigkeit von Panoramablick und Unlesbarkeit dieses Ausblicks, die er dabei generiert, läßt sich verblüffend leicht mit der Situation kurzschließen, der unsere heutige Wahrnehmungspraxis nach der Verwandlung des klassischen Bildungsbegriffs in die Kategorie des Wissens und von hier aus in den heutigen Begriff der Information ausgesetzt ist. So wie in der totalen gleichzeitigen Verfügbarkeit aller Informationen die Möglichkeit, überhaupt noch irgendetwas Präzises zu erfahren, immer mehr verlöscht, während doch andererseits tatsächlich alles vorhanden und abrufbar ist, sind auch Kunzes Bilder Visualisierungen einer durchgehenden Informierung von allem mit allem. Getränkt, buchstäblich gezeichnet von totaler Textualisierung verdunkelt sich der Text zu seinem eigenen Palimpsest, zu einem Phantomtext, von dem aus sich das Bild dennoch seine eigene, nicht subsumierbare Realität erschafft.


Texte ohne Verben, Köln 2002, S. 12